Der alte Baum

Für Vater

Majestätisch steht er da, der alte Eichenbaum. Umgeben von einem Wiesenteppich, der durchbrochen ist mit zarten Blumen, die ihre Blüten noch vor dem kühlen, morgendlichen Tau schützen.
Der Frühling gibt sein letztes Gastspiel bevor der Sommer die Herrschaft über die Natur übernimmt. Für die alte Eiche ist es wohl schon der 200. Sommer den sie mit ihrer ausladenden, saftig - grünen Blätterkrone begrüßt.
Als kleines Samenkorn fing ihr Leben an und sie wuchs unbeirrt, von Sturm, Hagel, Kälte, Dürre und vielen Kriegen zu diesem kräftigen Baum heran. Es scheint als könne ihr das Leben und die Natur nichts anhaben.
Ihre erlebten Verwundungen nimmt man nur bei genauerem hinsehen war. Und selbst mit ihren Verletzungen lebt die alte Eiche gut, denn in ihre Wunden hat sie viele kleine Tiere eingeladen, die so einen neuen Lebensraum und Schutz vor den Naturgewalten gefunden haben.

Es soll der letzte Sommer für die alte Eiche werden, die Menschen haben es so beschlossen. Eine neue Straße aus Asphalt wird das große Leben der Eiche beenden.
Bemühungen die Straße um den Baum herum zu leiten schlugen fehl. Menschen rechnen nicht mit der Natur sondern nur mit dem Geld.
Der Sommer zählt seine letzten Tage in diesem Jahr. Die Sägen und Äxte, kalte Werkzeuge der Menschen, liegen bereit um die Lebenskraft der Eiche für immer zu brechen.
Der Sommertag trägt eine schwüle, schwere Luft in sich und macht das Leben träge.
Dunkle, blau – graue Quellwolken verdecken das farbige Licht der Sonne und bringen einen stürmischen Wind mit, der kräftig an den Ästen der alten Eiche schüttelt. Der Wind nimmt auf seinem Weg viele kleine Samenkörner des alten Baumes mit und verteilt sie weit über das Land. Wie viel neue Eichen werden  daraus entstehen?

Die Wolken werden immer größer, der Sturm bringt kalte Luft mit, die sich nicht mit der schwül-warmen Sommerluft verträgt.
Ein kräftiges Gewitter zieht über die Eiche, wie schon unzählige Male zuvor.
Blitze zucken aus den bedrohlichen  Wolken heraus und unterstreichen ihre unbändige Kraft mit lautem, grollendem Donner.
Die Tiere suchen Schutz in ihrem Baum. Doch die kann er ihnen nicht mehr lang gewähren. Ein großer starker Blitz zuckt aus den Wolken und leitet seine Energie über den Baum in das Erdreich ab. Die alte Eiche verliert den Lebenskampf und ihr Stamm der so viele Jahresringe zählt, spaltet sich.
Als ob die Natur über den Verlust des alten Baumes weinen würde, fängt es  an zu regnen, erst nur mit wenigen zarten Tropfen, die dann aber immer mehr und kräftiger werden.
Kleine Wasserbäche rinnen über die großen Wunden, der alten Eiche von denen sie sich nie mehr erholen wird.
Alter Baum, du hast  dich vor der Natur beugen müssen, wie alle Lebewesen – aber nicht vor den Menschen!


Copyright © 2005 Hedwig Galow

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