Vergessen

Ein Fahrrad steht an einem Holzzaun, am Ende eines Bahnsteiges. Festgehalten durch eine schwere eiserne Kette, die durch Wind und Regen mit einer dicken Schicht Rost überzogen ist.
Das Rad, sicher einst der stolze Besitz eines Menschen, verändert sich Tag für Tag und doch durfte es sich schon lang nicht mehr bewegen. Es wurde sich selbst überlassen, vergessen. Nur die Natur spielt mit dem Rad. Der Regen lässt das Eisen rosten, die Sonne bleicht die letzten sichtbaren Farben aus und die schwankenden Temperaturen machen die Gummireifen unförmig und brüchig. Mutter Natur schickte ihre grünen Künstler los und so wächst das weiche Moos auf dem verstaubten, ausgefransten Sattel. Zarte, junge Gräser umschlingen sanft die verbogenen Speichen. Bald wird das Fahrrad wohl ganz in den Besitz der Natur übergehen – unsichtbar für uns.

Der Alte sitzt jeden Morgen ab 6 Uhr auf den Stufen vor dem großen Kaufhaus. Die Straße ist seit Jahren sein Wohnzimmer. Sein Badezimmer ist die öffentliche Toilette der Stadt. Die Mülltonnen und die Reste der Imbissbuden ersetzen ihm die Küche.
Seinen wertvollen Besitz trägt er in zwei Plastiktüten mit sich.
Vor Jahren hat er sich auf seinem Lebensweg verlaufen und kam nie mehr zurück aus dem Irrgarten. Man ließ ihn allein, hat ihn vergessen.
Und nun sitzt er unter uns auf den kalten schmutzigen Stufen des Kaufhauses, einsam in seiner schäbigen Kleidung. Seinem Blick aus dunklen, klaren Augen weicht man aus. Und wir bemühen uns weiterhin ihn zu übersehen.
Denn: Was man nicht mehr sieht, vergisst man.


© Hedwig Galow  23.Juni 2006

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