Warum Deutschland?
Roman von Hülya Hayat - Kapitel 1


DORT WO DIE WIEGE STAND

Wer wird dieses Buch einmal lesen? Mein Sohn, meine Freunde oder vielleicht auch Fremde? Was würde mein Bruder denken, wenn er es läse? All diese Männergeschichten - seine Schwester - eine „Schlampe“? Neulich wurde Sibel Kekilli der höchste deutsche Filmpreis als beste Hauptdarstellerin für ihren Film „Gegen die Wand“ verliehen. Ebenso wurde ihr Filmpartner Birol Atif als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet. Im Gegensatz zu ihrem männlichen Filmkollegen wird die junge Schauspielerin von ihrer Familie wegen der freizügigen Szenen verachtet. Sie wurde sozusagen verstoßen. „Ich habe keine Tochter mehr!“ soll der Vater gesagt haben. In seinen Augen ist sie jetzt eine Hure - eine Schande für die ganze Familie. Bei der Preisverleihung hat Sibel Kekilli vor laufender Kamera gesagt: „Mama, Papa ihr könnt stolz auf mich sein!“ Quasi ihnen die Hand gereicht. Ob sie stolz auf ihre Tochter sind? Wohl kaum. Selbst wenn die „abtrünnige“ Tochter die Eltern finanziell unterstützen oder ihnen teure Geschenke machen sollte, tief in ihren Herzen werden sie es bestenfalls akzeptieren, aber stolz können sie auf sie nicht sein. Zu tief wurzelt in ihnen der Ehrenkodex.

Dieses Buch handelt nicht von einer traumatisierten Türkin, die von ihrer Familie verstoßen wurde, weil sie so „deutsch“ geworden war oder weil sie mit vielen Männern geschlafen hatte. Ich gebe es unumwunden zu, ich habe mit vielen Männern geschlafen, gehöre der Generation an, die seriell monogam leben. Meine Beziehungen haben nie länger als drei Jahre gedauert, versteht sich von selbst, dass da in zwanzig Jahren einige Männer zusammen kommen. Soll ich mich deshalb schämen? Meine beste Freundin Beate sagt „ja“ - als Frau darf man diesbezüglich nie die Wahrheit sagen, das hielten nicht einmal deutsche Männer aus. A-ha! Nun, ich habe nicht die Absicht, Sie mit meinen Männergeschichten „zuzutexten“. Wie bitte? Höre ich da ein „schade“? Nein, ganz im Ernst, Männer sind toll, aber es gibt Wichtigeres. Mein Thema war mir von Anfang an klar. Ich wollte einer Frage, die mich seit Jahren beschäftigte, nachgehen: Warum lebte ich eigentlich in Deutschland? Zweifellos beinhaltet diese Frage einen leisen Vorwurf, der besagt „warum lebe ich eigentlich noch in Deutschland?“

Damals vor sieben Jahren, als ich Holger kennen lernte, wurde dieser Gedanke geboren. Ich dachte zum ersten Mal daran, Deutschland zu verlassen. Es war der Wunsch selbst zu bestimmen, wo ich leben wollte. „Dann geh doch!“ höre ich die Rechten rufen, „wir haben euch nicht gerufen“. Stimmt! Ihr habt mich nicht gerufen, das waren eure Eltern und ich bin nicht freiwillig hierher gekommen, das waren meine Eltern. Es geht hier nicht um Fernweh, Abenteuerlust oder um eine „Deutschland-Müdigkeit“ wie sie zahlreiche Deutsche auch haben. Hauptsache weg, „Scheiß Deutschland - ich hau’ hier ab“, das war doch unter jungen Leuten in den Siebzigern das Lebensmotto schlechthin. Damals hauten sogar Kinder von zu Hause ab, um in Indien oder Thailand das echte Glück zu finden. Alles, nur kein Spießerleben. Sie sind (fast) alle wiedergekommen. Nicht wenige von ihnen bevölkern heute die Chefetagen namhafter Firmen.

Zurück zu Holger. Ich hatte einen Zweitjob in einem Kino am Stadtrand von München. Mein Sohn und ich lebten in einer winzigen Zwei-Zimmer-Wohnung in Harlaching. Mikail war damals vier Jahre alt. An „kindfreien“ Tagen, wenn er bei seinem Papa war, verdiente ich mir zusätzlich Geld in diesem Kino. Holger war ein Deutscher, der vor dreißig Jahren nach seinem Abitur in den Staaten als au Pair eine Stelle angenommen hatte und nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt war. Sein Leben verlief dort äußerst erfolgreich. Erst studierte er Jura in Harvard, dann Filmwissenschaften in New York. Er nahm zusätzlich Schauspielunterricht und lernte weitere Fremdsprachen, insbesondere Spanisch und Portugiesisch. Mit bereits achtundzwanzig Jahren besaß er eine gut gehende Kanzlei in Los Angeles. Viele Jahre später, mittlerweile knapp über Vierzig, plagten ihn jedoch Zweifel, ob das mit dem ewigen Single-Dasein das war, was er wirklich gewollt hatte. Er bekam Angst. Angst vor dem Alleinsein, Angst vor dem Älterwerden und vor allen Dingen Angst vor dem Tod. Plötzlich war es ihm egal, wie süß die Mädchen waren, mit denen er schlief. Er fühlte, dass er Wurzeln brauchte, eine Frau - vielleicht auch Kinder. Er verfiel in eine tiefe Depression, aus der er nicht herausfand. Während dieser Zeit lernte er eine Frau kennen, die nicht besonders hübsch war, aber dafür ein großes Herz hatte. Sie half ihm, seine Wahrnehmung auf die wesentlichen Dinge des Lebens zu richten und vor allen Dingen ehrlich zu sich selbst zu sein. Sie sagte, im Grunde genommen wisse jeder Mensch ganz genau wie er zu leben hatte und was ihn wirklich glücklich mache. Es sei wie ein Weg von dem wir alle genau wüssten, dass er uns an den richtigen Ort führen würde, wir es aber trotzdem vorzögen in die unbekannten Gefilde des Lebens abzuweichen. Zu verlockend seien die unbekannten Früchte. Damit meinte sie keinesfalls, dass es weise wäre blind einem vorgezeichneten Weg zu folgen, nur um des Befolgens willen. Schließlich sei das Leben dazu viel zu unberechenbar. Das Geheimnis liege darin - den Verlockungen nachgehen zu können - aber dabei niemals zu vergessen, wer man war und wohin man wollte. Jede Entscheidung, so sagte sie, sollte von einem Lächeln begleitet sein. Sie war sehr weise und geduldig. Niemals kam sie ihm zu nah. Selbstverständlich schliefen sie irgendwann einmal miteinander, aber Liebe im romantischen Sinne wurde nie daraus. Jedenfalls nicht für ihn. Als er sich erholt hatte, distanzierte er sich zunächst von ihr, weil das Zusammensein mit ihr ihn an die schwere Zeit seiner Depression erinnerte. Sie jedoch war klug genug ihn loszulassen. Einige Monate später trafen sie sich wieder - beinahe zufällig - und da spürte er dass er sie liebte. Es war eine Liebe, die zu keiner Ehe führen würde, das wussten beide, aber sie spürten auch, dass diese Liebe ein Leben lang halten könnte. Die perfekte platonische Beziehung sozusagen. Ach ja, woher kommen eigentlich die Leute darauf, zu behaupten, es gäbe keine platonische Beziehung? Ich glaube fest daran, dass es sie gibt. Das Geheimnis liegt vielleicht darin, dass man mit dem Menschen, der später einmal ein platonischer Freund werden soll, schon einmal geschlafen hat.

Holger stürzte sich wieder in seine Arbeit und hatte nach kürzester Zeit erneut den Erfolg, den er ein Leben lang gewohnt war. In Hollywood wusste jeder, wer er war und er konnte einige nicht ganz unbekannte Schauspieler zu seiner Klientel zählen. Er schlief wieder mit sehr schönen, sehr jungen Frauen, die trotz ihres jugendlichen Alters bereits einige Schönheitsoperationen hinter sich hatten. Er wusste schnell kosmetisch präparierte Brüste von natürlichen zu unterscheiden. „Silikonbrüste fühlen sich wie Tennisbälle an“, sagte er einmal, „ekelhaft“. Nebenbei bemerkt, die Brustimplantate, die man heute anwendet, sollen gefühlsecht sein. Die Mädchen langweilten ihn zunehmend und er sehnte sich nach Geborgenheit und Wärme, so wie damals während seiner depressiven Phase. Diesmal ging es ihm aber psychisch gut. Er änderte seinen Fokus, was Frauen betraf, und versuchte mehr mit dem Herzen zu sehen. Klingt kitschig, nicht? Aber so kam es, dass er kurz nach seinem dreiundvierzigsten Geburtstag während eines Besuches in München seine zukünftige Frau kennen lernte. Er war bei dem schrecklichen Bombenanschlag 1989 in München während des Oktoberfestes schwer verletzt worden und kam in eine Rehaklinik, in der seine spätere Frau als Krankengymnastin arbeitete. Sie „richtete“ ihn wieder auf, seelisch wie körperlich. Es war ganz klar, dass er sich in sie verliebte. Sie war hübsch, natürlich und vor allem sehr lustig. Sie konnte so herzerfrischend lachen und - sie war Deutsche. Es war ihm nie bewusst gewesen, aber er genoss es „ich liebe dich“ zu sagen, anstatt „i love you“. Tief in seinem Herzen war er Deutscher geblieben und diese Stelle in seiner Seele wurde von diesem Mädchen aufs Tiefste berührt. Er wollte nicht mehr ohne sie leben. Sechs Monate später heirateten sie. Sie zog nach Amerika, schenkte ihm zwei wunderbare Kinder und das Glück schien vollkommen. Leider hielt die Ehe nicht. Als ich ihn einmal fragte, warum sie gescheitert war, sagte er „ich war zu gut zu ihr“. Was für eine blöde Antwort, das sagen doch die meisten Männer. Entweder ziehen sie über die Ex her oder sagen sie seien zu gut zu ihr gewesen. Nun, sie ließen sich scheiden und seine Frau ging mit den Kindern zurück nach Deutschland. Holger sah seine Kinder zweimal im Jahr. Zu Weihnachten besuchte er sie in Deutschland und während der Sommerferien folgten sie ihm nach Amerika. Auf seine Farm.

Ich lernte Holger während seines Weihnachts-Besuches in München kennen. Er kam mit seinem Sohn Julian in das Kino, in dem ich arbeitete, um „König der Löwen“ zu sehen. Nach der Vorstellung schenkte ich dem Kleinen ein Film-Plakat, so kamen wir ins Gespräch. Ich kümmerte mich sehr liebevoll, wie Holger es mir später beschrieb, um seinen Sohn und machte auf ihn einen sehr warmherzigen Eindruck. Bevor sie gingen, kam Holger noch einmal auf mich zu und hinterließ mir seine Visitenkarte mit den Worten „Kommen Sie mich auf meiner Farm in Amerika besuchen, wann immer sie wollen.“ Ich zweifelte keinen Augenblick an seiner Aufrichtigkeit. Wie hypnotisiert gab ich ihm meine Adresse. „Ich werde Ihnen schreiben“, sagte er und verließ mit einem Augenzwinkern das Kino. Zwei Monate später, beinahe hatte ich ihn vergessen, kam ein Brief aus Amerika. Er schrieb auf Englisch. Holger beendete seinen Brief mit den Worten „let’s stay in touch“. Ich schrieb zurück. Nach weiteren drei Briefen und zahlreichen Telefonaten besuchte er mich in Deutschland. Wir sprachen zwar nie von Liebe, aber eine gewisse Verliebtheit existierte schon, zumindest bei mir. Wir trafen uns in meiner Wohnung. Unser Umgangston war an diesem Abend nicht wie der eines Liebespaares, eher wie unter Bekannten, ich empfand ihn hölzern und beinahe abweisend. Er gab mir nicht einmal einen Kuss zum Abschied. Ich brach den Kontakt ab. Irgendwann, wenige Wochen nach seinem Besuch, rief er mich ganz unerwartet aus Amerika an und entschuldigte sich für sein Benehmen. „Es ist okay“, sagte ich etwas gereizt. „Ich wollte dich ja nicht gleich heiraten. Hör zu, wenn du mal wieder hier bist, gehen wir einen Kaffee zusammen trinken, was meinst du?“ „Gute Idee das mit dem Kaffee-Trinken, aber ich würde ihn mit dir lieber hier bei mir in New York trinken, was meinst du?“ flüsterte er charmant. So kam es, dass Mikail und ich drei Monate später von Holger am J.F.K-Airport abgeholt wurden. Als der Flieger über New York zur Landung ansetzte, ging gerade die Sonne unter. Das war ein sehr bewegender Augenblick für mich. New York war schon immer meine Traumstadt gewesen. Holger fuhr einen Buick, ein unglaublich großes Auto, ein „Schiff“ von der Sorte Vorstadt-Familien-Kutsche. Außerdem besaß er eine sehr hübsche Wohnung in Manhattan und eine Farm in Upstate New York bei Greenville in der Nähe von Albany. Wir trugen unsere Koffer in die Wohnung und gingen vor dem Schlafengehen noch etwas spazieren. New York bei Nacht! Mann, war ich glücklich. Jede Stadt hat ihre ganz eigene Ausstrahlung, ihren eigenen Rhythmus. Alle hatten mich vor New York gewarnt, es sei dort sehr hektisch und einengend. Ich habe das nie so empfunden. Ganz besonders schön war es in New York aufzuwachen, wenn die Ladenbesitzer ihre Rollläden hochzogen und die Stadt nach und nach zu neuem Leben erwachte - obwohl es ja heißt, New York schliefe niemals. Dann all die Frauen mit ihren Kostümen und den Turnschuhen, einen Cafe schlürfend - im Gehen, versteht sich. Die Turnschuhe werden dann im Büro gegen Pumps ausgetauscht.

In der dritten Nacht schliefen wir miteinander. Holger war kein besonders guter Liebhaber, aber sehr potent für sein Alter. Heute nach sieben Jahren frage ich mich, ob er damals Viagra genommen haben könnte - immerhin war er vierundfünfzig Jahre alt, zwanzig Jahre älter als ich. Später in seiner Farm erholten Mikail und ich uns sehr gut. Holger war die meiste Zeit in seinem Büro. Er übergab mir sein Auto, was sehr nett war, aber er lud mich niemals zum Essen ein. Für meine Unkosten kam ich stets selbst auf. Er war extrem geizig, auch zu sich selbst. Trotz seines hohen Vermögens aß er zum Frühstück Reste vom Abendessen, damit nichts weggeworfen werden musste. Aber irgendwie verdrängte ich das alles. Ich war so weit von zu Hause weg und wollte unseren Urlaub nicht vermiesen. Obwohl wir täglich miteinander schliefen, gab er mich bei seinen Freunden als „Besuch aus Deutschland“ aus. Das störte mich damals nicht so sehr, sondern eher die Tatsache, dass er meinem Sohn an seinem fünften Geburtstag, den wir dort feierten, nichts schenkte. Gar nichts! Nicht einmal ein Päckchen Kaugummi. Er besaß neben der Wohnung in New York, drei Häuser und 5000 Hektar Land. Stolz zeigte er mir bei unseren seltenen Ausflügen wie weit es sich erstreckte. Er hatte neben seiner Tätigkeit als Anwalt noch eine kleine Firma für ausgefallene Spielsachen. Irgendwelche Sammlerstücke. In seinem Lager stapelten sich Cowboy-Figuren und Indianer-Spielzeug. Nicht einmal davon gab er etwas ab. Wie gesagt, mir fiel das damals nicht sonderlich unangenehm auf. Das mit dem Auto war allerdings großartig. Mikail und ich machten tolle Ausflüge. Selbstverständlich zahlte ich das Benzin selbst und kaufte Lebensmittel ein um ihm nicht zur Last zu fallen. Obwohl ich damals wirklich nicht viel verdiente, versuchte ich nicht in seiner Schuld zu stehen, so kam nie das Gefühl hoch, er habe mich gekauft. Das stimmt nicht ganz. Eines Tages, als ich keine Lust hatte mit ihm zu schlafen, wurde er sehr wütend. Er verlangte, dass ich mit Mikail auf der Stelle abreisen sollte. Ich hätte ihn zutiefst verletzt. Bis heute weiß ich nicht was er damit meinte. Ich war erschüttert, immerhin hatte ich ein kleines Kind dabei. Wo war denn seine Ritterlichkeit? Ich blieb. Das ist eines der Dinge, die ich im Nachhinein bereue. Warum war ich nicht stark genug gewesen zu gehen? Es war nicht das erste Mal, dass ich trotz des Wissens, dass es vorbei war, bei einem Mann geblieben bin. Blöd von mir! Ich glaube, die meisten Menschen wissen ganz genau, wann eine Beziehung aufgehört hat zu „leben“ - trotzdem neigen wir alle dazu, diese Tatsache zu verdrängen. Warum eigentlich? Ist es Trägheit, der unerschütterliche Glaube an die Liebe und deren „autoimmune Heilkräfte“? Oder ist es einfach nur ein Misstrauen gegenüber der eigenen Urteilskraft?

Aus Holger und mir wurde kein Paar, aber die Idee mit dem Auswandern ließ mich seitdem nicht mehr los. In all den Jahren meiner Kindheit und Jugend hatte sich diese Frage für mich nicht gestellt. Ich lebte da wo meine Eltern waren. Fertig! Später heiratete ich, ließ mich scheiden, hatte einen festen Freund, besser gesagt mehrere feste Freunde, heiratete wieder, ließ mich wieder scheiden, dann wieder eine feste Beziehung. Natürlich gab es immer wieder Zeiten, meist waren es sechs bis zwölf Monate, in denen ich damit beschäftigt war, irgendeinem Kerl hinterher zu trauern, meine Wunden zu lecken, und mich wieder fit zu machen für die nächste Liebestragödie. Da war kein Platz für ernsthafte Auswanderungspläne.

In New York fühlte ich mich wohl, dort war ich keine Ausländerin. Die Stadt brodelte von Menschen verschiedener Nationalitäten. Alle waren Ausländer. Ich fiel dort nicht auf. Zugegeben, eine naive Sichtweise, denn erstens war ich Touristin, also zum Vergnügen dort und zweitens, was war mit den Schwarzen und den Hispanics? Weiße Überheblichkeit weltweit. Selbst während meines kurzen Aufenthalts entging es mir nicht, dass Weiße und Schwarze getrennt voneinander lebten, besonders sichtbar wurde das in den Kleinstädten. Und selbst dort waren die meisten Freundschaften zwischen Weißen und Schwarzen durch berufliche Kontakte entstanden und blieben auch meist auf das berufliche Umfeld beschränkt. Sonntags, wenn die Leute zur Kirche gingen, wurde das besonders deutlich. Es gab schwarze und weiße Kirchen. Holger zählte zu den so genannten angesehenen Bürgern des kleinen Städtchens Greenville. Schließlich hatte ihn der Bürgermeister höchstpersönlich als „Honorable Person“ ausgezeichnet. Ein Schriftzug an seiner Haustüre erinnerte daran. Holger bat mich eines Tages mich nicht so vertraut mit seiner mexikanischen Putzfrau zu unterhalten. Man werde sie dann nicht mehr los, erklärte er mir, so wie es Väter tun, wenn sie ihre Kinder davor warnen wollen mit Fremden zu sprechen. Er wolle schließlich nicht eines Tages die ganze Großfamilie in seinem Haus vorfinden.

Viele Menschen sagen, Amerikaner seien oberflächlich und irgendwie zu nett. Ich finde das nicht. Ein freundliches Miteinander in Lebensbereichen, die nicht zur „intimen Zone“ eines Menschen gehören, wie etwa einem ganz banalen Einkauf in einem Supermarkt ist doch netter, als gelebte Gleichgültigkeit - so wie man es aus Deutschland kennt. Jeder, der einmal depressiv war, weiß was es bedeutet, wenn man von einer Verkäuferin freundlich behandelt wird. Wussten Sie, dass die wenigsten Depressionen weltweit in Griechenland existieren? „Ja klar, da scheint ja auch ständig die Sonne“, werden Sie jetzt vielleicht sagen. Das ist wahr! Aber das allein ist es nicht - offenbar berühren sich dort die Menschen mehr als anderswo - mit den Händen, mit Worten.

Nun, New York übte eine ganz besondere Anziehung auf mich aus. Ich hatte dort das Gefühl, nicht „die andere“ zu sein. Schon allein das Aussehen der Menschen ist so vielfältig. Ganz zu schweigen von den Möglichkeiten auch außerhalb der eigenen vier Wände herum laufen zu können, wie man wollte ohne von den Passanten angestarrt zu werden, als wäre man ein Irrer. Nicht dass ich gerne in Lockenwicklern durch die Stadt laufen wollte, ich besitze nicht mal welche, aber allein die Möglichkeit diese Dinge tun zu können, ohne sonderlich aufzufallen, faszinierte mich. Vielfalt statt Einfalt. Ist dieser Wunsch in der Gesellschaft untertauchen zu können, einmal nicht als Angehörige einer Minderheit identifiziert zu werden, in Wirklichkeit ein Ausdruck von Schwäche oder gar Rassismus? Schwäche vielleicht schon, aber Rassismus? Nein. Es ist einfach die Sehnsucht ohne irgendwie nachdenken zu müssen „dazuzugehören“. In bestimmten Situationen nicht befürchten zu müssen, dass meine Herkunft mir Nachteile bereiten könnte. Wie etwa bei der Wohnungssuche. Mit meinem sehr türkisch klingenden Namen habe ich es schon dutzend Male erlebt, dass man mir bereits am Telefon sagte, die Wohnung sei an Ausländer nicht vermietbar. Bei der Wohnungssuche bin ich auf solche Dinge irgendwie vorbereitet, aber wenn es ganz unerwartet kommt, tut es sehr weh. So wie neulich bei EBAY. Vor einiger Zeit kaufte ich dort ein Buch. Da die Ware trotz meiner Überweisung des Kaufbetrages und einer angemessenen Wartezeit nicht ankam, erkundigte ich mich bei dem Verkäufer danach. Als er nicht antwortete, setzte ich ihm eine Frist zur Lieferung der Ware. Der Verkäufer, ein Berliner, schrieb mir eine E-Mail, die mir den Atem verschlug. Er beschimpfte mich als „lästige Ausländerin, die erst einmal richtig Deutsch lernen sollte und gebrauchte weitere Bezeichnungen, die ich hier nicht wiedergeben will. „Ein Einzelfall, so was kommt doch überall vor. Einem Deutschen in der Türkei könnte so etwas auch passieren“, werden Sie jetzt vielleicht sagen. Das stimmt! Darum geht es aber gar nicht. Im Schnitt passieren mir diese Dinge im Jahr circa sechs- bis achtmal. Sofern es Fremde sind, geht es noch, das stecke ich irgendwie weg. Schwieriger ist es, wenn es im Freundes- und Bekanntenkreis „passiert“. Alte Wunden werden aufgerissen. „Du bist zu empfindlich“, sagen dann manche. Oder - „Ja du hast schon recht, es wird wirklich über Ausländer geschimpft, besonders über Türken, finde dich damit ab, stehe darüber.“ Auch das ist richtig. Aber kann man das „darüber stehen“ einfach per Knopfdruck herstellen? Bei mir funktioniert das nicht. So kam es, dass ich nach Verbündeten suchte, nach Menschen, die sich ebenso fühlten wie ich. Die Türken in meiner Umgebung, eingebettet in ihren Traditionen und wieder neu entdeckter Religiosität, registrieren auch eine gewisse Fremdenfeindlichkeit, aber sie lassen diese Dinge nicht ganz so an sich heran, weil viele von ihnen das selbe tun, wie manche Deutsche. Sie diskriminieren „die Anderen“. „Was willst du, das sind Deutsche, die sind kalt, du bist doch mehr wert.“ Ich will aber nicht mehr wert sein. Andere abwerten um sich besser zu fühlen. Ich weiß dass das funktioniert, im Job zum Beispiel. Als ich Reich-Ranickis „Mein Leben“ las, begriff ich, dass es noch andere gab, die sich ebenso heimatlos fühlten wie ich, zum Beispiel die Juden. Das Gefühl nicht dazu zu gehören verschwindet nicht durch das Erlernen der Sprache oder durch Anpassung. Wie sehr musste ich mich denn noch anpassen? Dadurch hatte ich den Kontakt zu meinen Landsleuten und, was noch viel schwerer wiegt, meine Identität verloren. Ich verstand die Türken nicht mehr und die Deutschen verstehen mich nicht genug. Ich war anders geworden, für die Türken eine Deutsche, für die Deutschen immer noch eine Türkin. Was hatte mir die totale Anpassung gebracht? Als Kaya Yanar und andere türkische Comedians populär wurden, mit ihren Witzen über Türken und Deutsche, wusste ich es. Ich hatte vor allen Dingen meinen Humor verloren. Also, doch darüber stehen! Wie lernt man so etwas? Erst einmal wollte ich das mit dem „Abhauen wollen“ vertagen. Ich wollte erst einmal Menschen kennen lernen, die so empfinden wie ich. Wer - und vor allen Dingen - wie waren diese Menschen? Mein Blick fiel zuerst auf Deutsche, die ihre Heimat verloren hatten. Die so genannten Vertriebenen. Wie erging es ihnen damals, als sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aufbrachen um in Deutschland eine neue Heimat zu finden? Ich musste nicht lange suchen. In meinem engsten Freundeskreis befanden sich haufenweise Geschichten dieser Art, man musste nur danach greifen. Alte vergessene Geschichten, die niemanden mehr interessierten, wurden für mich wichtig. Haben diese Menschen nach all den Jahren in Deutschland wirklich eine Heimat finden können? Oder ist in manchen Herzen dieser Menschen immer noch eine Wehmut nach der alten Heimat zu spüren? Eine Bekannte aus Frankfurt erzählte mir ihre Geschichte. Sie war in Glatz im heutigen Polen geboren. Ihr Vater war ein hoch angesehener Mann, ein begeisterter Nationalsozialist. Schnell wurde er von den Nazis befördert, tat immer das was man von ihm verlangte. „Er wusste von nichts, er hatte sich nie etwas zu schulden kommen lassen“ beteuerte meine Bekannte. Als das Ende des Krieges nahte, verließen viele Nazis das Land und flüchteten in den Westen. Ihr Vater blieb hartnäckig bis zum Schluss in Glatz, selbst auf die Gefahr, dass die Familie umkam. Irgendwann hatte die Mutter meiner Bekannten genug von seiner Loyalität; sie packte das Nötigste ein, nahm ihre drei Kinder, meine Bekannte war damals sechs Jahre alt, und trat den Weg gegen Westen an. Der Vater ging mit, es blieb ihm nichts anderes übrig. An der tschechischen Grenze wurde er verhaftet. Die Mutter musste mit den Kindern alleine weitergehen. Was die Kinder nicht wussten, sie war an Krebs erkrankt und hatte fürchterliche Schmerzen. Als sie in Sachsen ankamen, wurden sie von den Amerikanern wieder zurückgeschickt. Nach Polen. Also, mussten sie notgedrungen den ganzen Weg wieder zurückgehen. Hungernd, frierend und bis aufs Tiefste gedemütigt. Für den Rückweg brauchten sie ganze drei Monate. In Glatz angekommen, wurden sie gleich wieder abtransportiert und wieder nach Deutschland geschickt. Eine schreckliche Tortur. Ihre Mutter hatte die Strapazen der Reise nicht überlebt. Sie starb noch am Tag ihrer Abreise, an ihrem Geburtsort. Meine Bekannte musste sich alleine durchschlagen. Sie fand Unterschlupf auf einem Bauernhof in Hessen. Willkommen war sie dort nicht. Ihre jüngeren Geschwister wurden in einem Heim untergebracht. Nach zwei Jahren kam ihr Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück, ein gebrochener Mann, treu ergebener Nazi bis zum Schluss. Er starb nach weiteren zehn Jahren. Niemals sprach er über seine Vergangenheit. Meine Bekannte beteuert, er habe nichts gewusst, das mit den Juden und so. Wer hat überhaupt etwas gewusst, frage ich mich? Keiner war’s! Hitler wird ja nicht eigenhändig die grauenvollen Taten vollbracht haben. Und wann geht das mit dem „etwas tun“ eigentlich los? Wenn man einen Menschen umbringt? Oder bereits wenn man wegschaut? Meine Bekannte jedenfalls ist heute weit über siebzig und hat nie wieder ihren Geburtsort besucht. Zu viele Erinnerungen, sagt sie. Und auf meine Frage, wo denn ihre Heimat sei, antwortet sie mit einen Reim und ihre Augen werden feucht dabei:

Vergiss niemals wo deine Wiege stand
du findest in der Ferne kein zweites Heimatland



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