Intelligenz - ein Garant für Fortschritt?

Wir Menschen haben mitunter ein seltsames Verhältnis zu den Leistungen unseres Intellekts. Wir schätzen sie sehr oft höher ein als sie sind. Wir umgeben sie gern mit einem Nimbus der Einmaligkeit, Unantastbarkeit und schwelgen in dem Bewusstsein, jedermann müsse von unserer Intelligenz beeindruckt, wenn nicht geblendet sein. Dabei betreiben wir unsere Gehirnakrobatik meistens in nüchternen, exakt und eng begrenzten Bereichen, nicht selten auch in einer kleinlichen Art. Ich scheue mich nicht zu behaupten, dass der größte Teil dessen, worauf wir so stolz sind, in ethischer Hinsicht bedeutungslos ist, dass wir die Schwelle der Tierwelt in dieser Beziehung selten überschreiten. Wenn wir auch Dinge zu tun vermögen, die in der Tierwelt nicht möglich sind, weil dort die kommunikativen und technischen Voraussetzungen fehlen, so befinden wir uns in unserem Handeln sehr oft auf einem Niveau, das von dem der Tierwelt nicht grundlegend verschieden ist und das grob mit Selbsterhaltung, Fortpflanzung, Bedürfnisbefriedigung und Verbesserung der äußeren Lebensverhältnisse umschrieben werden kann. Auf diese Bereiche beschränken wir im Großen und Ganzen auch unseren Intellekt. Ich sehe darin eine der schmerzlichsten und bedauernswertesten Erfahrungen überhaupt.

Was könnte der Mensch, die menschliche Gemeinschaft sein, wenn die andere Seite, die Lichtseite des Menschseins mehr gepflegt würde! Ich verstehe darunter Phantasie, Vertrauen, Güte, Menschenfreundlichkeit, Ehrfurcht gegenüber der Einmaligkeit des Lebens und der Vielfalt seiner Erscheinungen. Leider gewinnt man, wenn man sich mit menschlichen Verhältnissen längere Zeit beschäftigt, oft den Eindruck, als seien diejenigen Eigenschaften, auf Grund derer der Mensch mehr als ein höher entwickeltes Tier sein könnte und die ihm das Attribut "Krone der Schöpfung" ein- und aufprägen würden, nicht wirklich vorhanden, erfahrbar, spürbar als etwas, auf das man bauen und vertrauen kann. Mir scheint, als hätten diese Eigenschaften vorwiegend in einer geheimnisvollen Welt der Erzählungen, Legenden und Sagen ihren Platz, nicht aber in unserer wirklichen Welt. Es werden wohl sehnsüchtig und inbrünstig, manchmal auch überdrüssig und verzweifelt höherwertige menschliche Eigenschaften beschworen und herbeigewünscht, wie Liebe, Einsicht, Vernunft, Einigkeit, Zufriedenheit. Ebenso werden die Gegenpole wie Hass, Zwietracht, Gewalt angeklagt und gebrandmarkt, da wir wohl fühlen, dass wir die missliche Lage diesen zuschreiben müssen. An solchen Stimmen fehlt es gewiss nicht in unseren Tagen. Doch stellt sich darauf keine Beruhigung, noch weniger eine Besserung der Verhältnisse ein; die Feindschaft, die Kluft zwischen Menschen wird eher noch größer. Vielleicht kämen wir einen Schritt weiter, wenn wir uns mit der Unvollkommenheit und Fehlerhaftigkeit des menschlichen Lebens abfänden? Ich meine, mit der Grundtatsache als solcher. Selbstverständlich soll damit nicht gesagt sein, dass nicht der Einzelne und die Gesellschaft stets nach Kräften bemüht sein sollen, die Verhältnisse im Einzelnen zu verbessern.

September 1982

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