Morgenspaziergang

Heute ist ein schöner Frühlingsmorgen. Ich spaziere ins Büro. Die Luft ist etwas neblig, aber mild. Der Nebel und die knappe Zeit hätten mich beinahe abgehalten und mir angebracht erscheinen lassen, mit dem Zug zu fahren. Doch nun bin ich froh, in dieser frühen Morgenstunde die milde Luft genießen und die erwachende Natur beobachten zu können. Mein Weg führt zwar durch die Straßen der Stadt. Ich vermeide aber, so gut es geht, die großen Verkehrsadern, die ich nur auf kurzen Strecken überquere.

Anfangs gehen meine Beine in monotoner Regelmäßigkeit. Den Blick vor mir auf den Gehweg gesenkt, streifen meine Gedanken flüchtig alltägliche, belanglose Dinge. Obwohl es schon hell ist und die Strahlen der Sonne die Gegenstände leuchtend und plastisch hervorheben, befinde ich mich noch an der Grenze von Tag und Nacht. Meine Sinne und mein Bewusstsein sind vergleichbar einem erst halb geöffneten Blütenkelch.

Ich gehe jetzt wenige Meter neben dichten Autoschlangen, da es unvermeidbar ist, auf einer der großen Ausfallstraßen die Brücke über den Lech zu passieren. Die einzelnen Fahrzeuge huschen in ununterbrochener Folge an mir vorüber. In der Gegenrichtung ist der Verkehr ebenso dicht. Der Motorenlärm erinnert mich an das alles erfüllende und durchdringende Brausen eines Wasserfalles. Es ist, als ob ich dicht neben den aufprallenden Wassermassen stünde. Nur, dass ich tosende Wasserfälle immer als gewaltiges Naturschauspiel empfinde, in ihrem feinen Schleier kleiner Tröpfchen befreit atme und wie von einer geheimen Kraft durchflutet und belebt werde, während ich das ständige Brausen, das kurze An- und Abschwellen der Motoren als etwas Fremdes, Belästigendes empfinde, das gewaltsam in mich dringt. Die Abgasschwaden steigen mir unangenehm in die Nase, ich atme unwillkürlich flacher und versuche den Atem etwas anzuhalten. Die Gesichter der Menschen hinter den Windschutzscheiben haben den leeren Ausdruck von Schaufensterpuppen. Sie sind alle starr auf den vor ihnen flutenden Verkehr gerichtet; Gesichter von Menschen in einem technischen Ablauf, der sie beherrscht, der sie ganz beschlagnahmt. Mir erscheinen die Autofahrer, obwohl Menschen wie ich und wie wir alle, während sie am Steuer sitzen, eher als Teile von Maschinen denn als reale Menschen. Mag sein, dass dieser Gedanke absurd ist und sich mir nur aufdrängt, weil ich kein Autofahrer bin. Ich weiß nur, dass ich diesen Gesichtsausdruck sonst sehr selten an den Menschen bemerke. Eine gewisse Ähnlichkeit haben die Gesichter mit während eines Konzerts spielenden Musikern. Auch diese sind ganz in eine andere Welt versunken, jede Regung ist aus ihren Gesichtern gebannt. Wir können nicht ablesen, welche Wirkung das äußere Geschehen in diesen Menschen hervorruft. Es vollzieht sich unsichtbar, in der Seele.

Ich bin froh, dass ich die Ausfallstraße verlassen kann. Der Weg führt nun durch ruhige Wohnstraßen, vorbei an gepflegten Häusern mit meist schön angelegten Gärten. Ich spüre, wie mein Körper beim längeren Gehen geschmeidiger wird und meine Aufmerksamkeit wächst. Mein Blick wird von immer mehr Dingen angezogen. Hier sitzt ein Rotkehlchen auf einem Strauch, nur drei Meter entfernt. Dort stößt eine Amsel auf dem Dachfirst ihre kurzen, scharfen Laute aus. Die Knospen mancher Bäume sind dick und prall und werden heute oder morgen aufspringen und die zart-grünen Blättchen entfalten. An anderen Bäumen und Sträuchern treiben schon die Blätter. Jede Knospe, jede Blume teilt uns etwas von dem quellenden, drängenden Leben mit, das in der Natur nun wieder erwacht. Wenn wir innerlich diesem Geschehen aufgeschlossen sind und es nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen, geht von der sprossenden, blühenden Natur auf uns eine Freude über. Wir können unsere Gedanken schweifen lassen von einem Baum, wie er in seiner Pracht vor uns steht, zu den Tieren und Menschen, die alle von diesem gewaltigen Strom des Lebens erfasst sind. Wenn auch der Kreislauf des Lebens bei Tieren und Menschen ein anderer ist und sich nicht jährlich erneuert, empfinden wir doch beim ruhigen Betrachten etwa eines herrlichen Pferdes oder eines Menschen in der Blüte seiner Jugend dieselbe Kraft, die in der ganzen Natur vorhanden ist. Es ist die von den bedeutenden Künstlern aller Richtungen zum Ausdruck gebrachte, der Natur in wunderbarer Weise eigene Harmonie der Vollkommenheit von Körpern und Formen, der Zweckmäßigkeit und der Schönheit. Es ist das, was wir in unserer engen Menschenwelt oft so schmerzlich vermissen.

Solche und ähnliche Gedanken tauchen manchmal auf, wenn ich morgens den Weg ins Büro gehe, natürlich nicht explizit wie in den vorigen Sätzen, sondern bruchstückhaft, vermengt mit anderen trivialen Gedanken, die den heutigen Tag, bestimmte, gegenwärtig aktuelle Dinge betreffen. Die Gedanken steigen aus der Tiefe unseres Wesens auf, wie vom Grunde eines Sees Luftblasen zur Wasseroberfläche emporsteigen. Sie drängen lebendiger, schneller und reicher zum Bewusstsein, wenn ich in guter Verfassung, von drängenden Sorgen frei, nicht in Eile bin und die Umgebung anregend auf mich wirkt. Ich bin sicher, dass die positiven Gedanken, die ich wie ein Geschenk empfangen darf, in der Tiefe meines Wesens eingeschlossen bleiben müssten, wenn nicht die gelegentlichen einsamen Spaziergänge wären, wenn ich als Träger gesellschaftlicher Rollen nur zwischen Wohnung und Arbeitsplatz pendeln würde, stets darauf bedacht, möglichst wirtschaftlich und sparsam mit der Zeit umzugehen.

April 1981

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