Der ältere Herr
Kurzgeschichte von Droka

Er hatte einen langen Tag hinter sich gebracht und saß nun an der Schwelle, also dem letzten Sitzplatz, zu dem kleinen Raucherabteil des Zuges, den immer wieder um dieselbe Zeit zu nehmen er sich angewöhnt hatte. Das Wetter war feucht und kühl und so hatte er die Tasche aus Reinlichkeitsgründen nicht auf den Boden, sondern auf seinen Schoß gelegt, da sich um sein Schuhwerk herum schon recht schnell eine Dreckpfütze gebildet hatte, und nebenbei besaß diese Tat in seinen Augen durchaus sozialen Charakter, weil ja dadurch dem möglicherweise noch bevorstehenden Durchfluss an Humankapital, schließlich waren noch zwei Stationen durchzufahren bis er endlich in seinem Heimatort aussteigen konnte, außer den Beinen keine Hindernisse in den Weg gelegt wurden! "Nächster Halt: ... Ausstieg in Fahrtrichtung RECHTS!" ertönte die wohlbekannte Tonbandstimme aus den Lautsprechern, der Zug hielt nur wenige Augenblicke später, die Tür öffnete sich und ein paar mürrisch-schweigsame Vertreter der Spezies Humankapital verließen das Abteil, woraufhin ihre Plätze von ein paar anderen Mürrisch-Schweigsamen, die nun eingestiegen waren, eingenommen wurden. Er fühlte sich auch unter ihnen sogleich wie ein geistig Erschöpfter unter körperlich Müden. Die Tür war schon im Begriff sich zu schließen, als noch eine hochgewachsene Person, schmal und männlichen Geschlechts, nicht gerade geschickt hindurchschlüpfte und mit einer Plastiktüte in der einen Hand, die andere auf dem beigen Hut an ihm ohne große Mühe doch holprig vorbeiging und gerüchlich förmlich die Aura einer alten, lichtarmen Kneipe hinter sich herzog. Sein Interesse an dieser Gestalt war geweckt und er begann dieses Faszinosum unauffällig zu beobachten, als dieser ältere Herr, er hatte stark grau-weißes Resthaupthaar und einen ebenso farblosen Vollbart, den Hut und auch den unten herum von Straßendreck gezeichneten Mantel abnahm, übrigens sah auch seine Hose nicht viel besser aus, und, nachdem er beide Kleidungsstücke an einem Haken aufgehängt hatte, sich mitsamt seiner Plastiktüte auf einen seitlich in den Raum ragenden Platz setzte. Der ältere Herr sah niemanden, nur die vor ihm aufragende Wand. Er schien sich auf eine längere Strecke vorzubereiten, denn nun klappte er den eingebauten Tisch heraus, nahm aus der Tüte ein Bierglas, das er sogleich in die Haltevertiefung stellte, gesellte diesem auch schnell das dazu gehörende Getränk mit Flaschenöffner hinzu und schenkte sich, nachdem der Knack-und Zischlaut in den Gehörgängen der Beisitzenden verhallt war, die ersten Tropfen ein. Als Tropfen konnte man diese Menge zu Recht bezeichnen, denn der Anteil an Schaum füllte das Glas zu Dreivierteln. Kaum hatte der erste, gierige Schluck dann die Kehle passiert, kramte der ältere Herr eine Pfeife aus irgendeiner Seitentasche, stopfte und zündete sie sich an. Schon wurde der Raum von einem Geruch, der ihm in manchen Orient-Cafes mit Wasserpfeifen ganz normal vorkam, erfüllt und die geringen Ausdünstungen der beisitzenden, teilnahmslos in die Luft starrenden Zigarettenraucher verschwanden im Rachen dieser Charybdis. Ein weiterer Schluck Bier, ein nochmaliges Nachschenken, von einem erneuten Zug aus der Pfeife begleitet, und die Wiederholung dieser drei Tätigkeiten folgte. Nicht, dass er darüber sehr aufgebracht gewesen wäre, da hatte ihm das eine Mal, als die zwei einander unbekannten, folglich voneinander unabhängigen Personen ihre Zigarettenasche statt in die herumhängenden Aschenbecher einfach auf den Boden fallen ließen, weit mehr zugesetzt, aber ihm schwirrten Fragen im Kopf herum. ' War der Mann unglücklich, ein Kauz, sogar obdachlos oder einfach Alkoholiker?' "Nächster Halt: ... Ausstieg in Fahrtrichtung RECHTS!" ertönte die wohlbekannte Tonbandstimme aus dem Lautsprecher und die gewohnte Bewegung ging durch die Menge. Er nahm eine Zeitung aus seiner Tasche und vertiefte sich in sie. Kaum eine Seite hatte er aufmerksam gelesen, der Zug bewegte sich schon einige Augenblicke, als er einen kurzen Blick in Richtung seines unfreiwilligen Studienobjekts warf. Der ältere Herr war weg!?


Copyright © 2005 Droka

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