Fegefeuer

Leben war immer ihre Passion gewesen. Ein wenig Nervenkitzel hier, ein kleines Risiko dort. „Die Quintessenz des Seins“, wie John oft mit einem Grinsen bemerkt hatte.
Sich amüsieren, Spaß haben, nicht bis morgen warten. Sich einen Dreck um die anderen scheren. Auf die Spießbürger pfeifen.

Sally ahnte, dass viel Zeit vergangen war. Ein vages Gefühl sagte ihr, sie müsste endlich etwas von sich hören lassen. Ein kurzer Anruf wenigstens.
„Ich schick‘ schnell ‘ne Botschaft an meine Alten“, rief sie John zu, der gelangweilt auf dem rot-weiß geblümten Sofa am Fenster saß. Er nickte.
Sie nahm ihr kleines blaues Handy und versuchte, sich an die Nummer zu erinnern, was ihr plötzlich unsäglich schwer fiel.
„Ich hab‘ dir doch gesagt, du sollst alle Telefonnummern einspeichern“, maulte John aus seiner Ecke.
„Ach, halt doch den Mund. Ich kann deine Belehrungen nicht mehr hören...!“ Sally kramte in den Taschen ihres Mantels, den sie, gleich als sie das Zimmer betreten hatten, achtlos über einen Stuhl geworfen hatte. Irgendwo musste doch ihr Adressbuch zu finden sein, das sie für Notfälle stets bei sich trug. Sie hatte es immer vorgezogen, wichtige Dinge aufzuschreiben.

Es war kalt draußen, daran konnte sie sich erinnern. Die Straßen waren nass gewesen vom frisch gefallenen Schnee, der sofort zu schmelzen begann und auf dem Asphalt eine braun-schwarze, schmutzige Brühe bildete, welche mühelos durch die Sohlen ihrer Stiefel drang. Sie fröstelte.
„Mach die Heizung an“, sagte sie zu John, der gelangweilt in einer Illustrierten blätterte.
„Die ist ja vom Vorjahr“, murmelte er verärgert und ließ das abgegriffene Heft neben sich auf den Boden fallen.
„Hörst du nicht?“, fauchte Sally, „es ist kalt hier. Du sollst die Heizung aufdrehen.“
Das Handy lag vor ihr auf dem Wohnzimmertisch. Vergeblich mühte sie sich ab, auf den ungewohnt winzig erscheinenden Tasten ein paar Ziffern einzutippen. Die Städtevorwahl, wie war sie noch gleich...
Sie sprang auf.
„Weißt du nicht, wo ich dieses verdammte Notizbuch gelassen habe?“, kreischte sie hysterisch. „Ich muss zu Hause anrufen. Sie machen sich bestimmt schon Sorgen!“
John schien sie gar nicht wahrzunehmen. Er stand gedankenverloren am Kamin, völlig in die Betrachtung einer antiken Uhr vertieft, die ganz vorne auf dem Sims stand. Das Zifferblatt war nicht eigentlich rund, und die Zahlen für seine Begriffe seltsam ungleich verteilt. Als er das letzte Mal hingesehen hatte, war es drei Minuten vor zwölf gewesen. Jetzt sollte die Uhr eigentlich ungefähr halb eins zeigen.
Verwirrt betrachtete er die Szenerie. Sein Gehirn schmerzte. Er hatte das Gefühl als würde es von innen her aufgeblasen wie ein Ballon. Der kleine Zeiger der Uhr wies immer noch in etwa auf zwölf, der große dagegen schien rückwärts zu wandern. Halb zwölf war es jetzt. Die Umrisse der Uhr verschwammen vor seinen Augen.
Er blickte durch das Fenster nach draußen. Die Straße glänzte im Schein einer fahlen Laterne. War es der Schnee, oder hatte es wieder geregnet? Eine unnatürliche, zähe Dunkelheit lag über allem.
„John!“
Er gewahrte Sallys vertrautes Keifen wie durch einen Nebel.
„Sieh dir diese scheiß Heizung an, wo hat die nur den Regler? Man kann sie ja nirgends anmachen! Vielleicht haben die vor uns ihre Zimmermiete nicht bezahlt, und man hat ihn abmontiert. Oder sie wollen sparen. Kleinkariert und geizig wie diese Hotelbesitzer alle sind. Was meinst du? Oh, es ist kalt hier, John! Vielleicht könnten wir ein Feuer im Kamin machen. Aber womit bloß? Ich sehe nirgendwo Holz. Sag doch was...!“
Ihre Stimme nahm einen weinerlichen Ton an.
John ging zu ihr hinüber um sie in den Arm zu nehmen. Er hätte sie gerne getröstet, brachte es aber nur zu einem hilflosen Schulterzucken.
Er sah wieder auf die Uhr. Zehn vor eins war es jetzt. Sein Gehirn wollte fast zerspringen.

„Hast du schon zu Hause angerufen?“, fragte er Sally, die sich mit angezogenen Beinen in den alten Lehnstuhl vor dem Kamin gekauert hatte, die Augen starr nach vorne gerichtet.
„Nein“, schrie sie ihn an, „nein, verdammt noch mal, ich weiß ja die Nummer nicht! Sie fällt mir einfach nicht mehr ein.“
Ihre Stimme kippte und ging in ein tonloses Weinen über.
„Sie werden sich Sorgen machen“, wimmerte sie. „Genau wie früher. Wir sind einfach abgehauen und haben ewig nichts von uns hören lassen. Unsere Eltern sind jedesmal fast gestorben vor Angst.
Morgen hast du immer gesagt – warten wir noch bis morgen. Und dann haben wir darauf vergessen. Oder es war kein Telefon in der Nähe. Aber sie hatten doch Angst um uns. Sie haben sich Sorgen gemacht.“

„Damals gab’s noch keine Handys, das weißt du“, gab John ärgerlich zurück, „und mir brauchst du weiß Gott keine Vorwürfe zu machen. Du hattest selber nur Unsinn in deinem hübschen, kleinen Kopf. Geld war schließlich auch immer knapp. Lieber noch ein Baccardi-Cola, als fünf Minuten in einer schwülen Telefonzelle.“
Er lachte schallend, als wäre ihm ein besonders guter Witz gelungen.
„Ich hasse dich“, murmelte Sally während sie fortfuhr, wahllos die Tasten ihres Telefons zu drücken, in der absurden Hoffnung, die richtigen könnten darunter sein.
Die Uhr auf dem Kaminsims zeigte viertel nach zehn.

Sally stand auf um sich ihren Mantel zu holen. Während sie ihn fest um die Schultern zog, breitete sich ein nagendes Gefühl in ihrem Körper aus. Was, wenn ihr die Telefonnummer nicht wieder einfiel? Wenn niemand davon erfuhr, dass sie nach einer Autopanne hier festsaßen? In dieser sonderbaren Absteige, deren Besitzer kurz nachdem er ihnen das Zimmer angewiesen hatte, wortlos durch eine Seitentür verschwunden war? Warum wurde es draußen nicht hell? Weshalb nahm diese durchdringende schwarze Nacht kein Ende? Hatte es überhaupt Sinn, hier noch länger zu bleiben?

Wir standen gefährlich nahe am Abgrund, über dessen Rand kein Lebender gelangen kann.
Erschrocken blickte ich meinen geflügelten Begleiter an.
„Ein Unfall“, erklärte er mit ernstem Gesicht. „Passiert leider öfter.“
Was ich sah, verwirrte und ängstigte mich.
„Aber sie wissen es doch nicht, und niemand kommt, um es ihnen zu sagen.“
„Du irrst“, sagte der Engel, während er mich an der Hand nahm und wegführte.
„Sie wissen es wohl, und es liegt allein an ihnen, ob sie bleiben oder gehen.“
„Aber wie?“, erwiderte ich mit verhaltenem Grauen, „wie kommen sie dort jemals weg?“
Der Engel blickte mich gütig und mit Nachsicht an. Dann fügte er hinzu:
„Es ist einfacher als du denkst – sie brauchen sich nur zu entscheiden.“


© Gabriele Feyerer


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