Die Okarina
Erinnerungen von Horst Wolf
Es war zu meinem zehnten Geburtstag, als ich eine Okarina geschenkt
bekam. Ich hatte das ungefähr Gänseei große Instrument
bei einem Jahrmarktschausteller gesehen und gehört und war ganz
närrisch darauf. Man konnte auf der Okarina spielen wie auf einer
Blockflöte.
Die Okarina gefiel mir besser als die Flöte. Sie war handlicher.
Man konnte sie in der Hosentasche verschwinden lassen. Aus Ton geformt,
innen hohl und außen bunt bemalt, hatte sie Fingerlöcher wie
die Flöte. Und natürlich ein Mundstück zum Reinblasen.
Mutter erzählte, dass die Leute in wärmeren Ländern die
Okarina aus Früchten machen. Weil es aber bei uns keine
Kokosnüsse und Flaschenkürbisse gibt, kam ein pfiffiger
Mensch auf die Idee, das Instrument aus Ton zu kneten und hart zu
brennen.
Ich übte fleißig. Bald konnte ich fast fehlerfrei Fuchs du
hast die Gans gestohlen spielen. Einziger Zuhörer bei der
Premiere
war unser Hofhund Putz. Bei der Drohung, der Jäger würde den
Fuchs holen, falls er nicht sofort die Gans zurück brächte,
richtete sich Putz knurrend auf. Kam die Tonfolge mit dem
Schießgewe-he-her
jaulte er los, als wollte er den Fuchs warnen.
Schnell bekam ich mit, dass ihm die Töne weh taten. Also brachte
ich ihn wieder und wieder zum Heulen.
Zu dieser Zeit aber hielt Großvater Mittagsschlaf. Der war ihm
heilig. Durchs offene Fenster drangen die Hundeheuler an
Großvaters Ohren. Er horchte auf: War da was im Gange auf dem
Hof? Ein Hühnerdieb vielleicht?
Er sah mich vor der Hütte hocken, hörte das geflötete
und geheulte Duett mit dem Schießgewe-he-her
und langte mir eine
hinter die Ohren. Ich kippte vornüber in Richtung Misthaufen und
ließ erschrocken die Okarina fallen. Die kullerte in die
Regenpfütze neben dem Haufen. Großvaters Bassstimme donnerte
wie ein Sommergewitter über den Hof. Putz flüchtete in die
Hütte, ich in einem Satz in die Fliederhecke. Die Okarina machte
blub-blub und tauchte ab.
Als sich Großvater wieder zur Ruhe gelegt hatte und die Luft rein
war, ließ sich Putz wieder sehen und ich fischte die Okarina aus
der Pfütze. Putz beschnüffelte sie mit besorgtem Blick. Ach,
ja, das Schießgewe-he-her!
Oder was war ihm aufgefallen?
Ich lief die mittagsleere Dorfstraße hinunter und schüttelte
dabei die Okarina, bis der letzte Wassertropfen heraus war. Als ich
weit genug weg war von Hof und Hund und Großvater, setzte ich zum
Spielen an. Ein Geruch hielt mich ab. Pfui, Deibel! Das kam vom Bad in
der Pfütze – und die hatte was angenommen von dem Misthaufen. Im
Wiesengraben mit dem herrlichen Quellwasser ließ ich die Okarina
blubbern. Immer rein, raus, rein und raus.
Neuer Versuch: Fuchs du hast…
Der scheußliche Geruch war immer noch da und legte sich auf die
Zunge.
Meine schöne Okarina! Was sollte ich machen? Wegschmeißen
kam nicht in Frage. Geschenke hält man in Ehren – auch wenn sie
nicht gut riechen.
Noch ein Versuch: Kuckuck, Kuckuck
ruft’s aus dem Wald.
Ich gab’s auf.
Neben der Stalltür stand die Kanne mit Molke. Das ist diese
trübgrüne Brühe mit säuerlichem Geschmack – nicht
unangenehm – die übrig bleibt, wenn aus Dickmilch Quark gemacht
wird. Blubb blubb machte die Okarina, als ich sie in die Molke fallen
ließ. Putz schüttelte sich und schlich beiseite. Hatte mich
jetzt jemand gesehen?
Flugs wieder runter vom Hof, um drei Ecken gab es noch andere wichtige
Dinge.
Es dämmerte schon, als ich heimkam. Großvater hielt mir die
Okarina unter die Nase. Der Schreck fuhr mir in die Knie.
Was sagst’n dazu, fragte er brummig, aber nicht unfreundlich. Und: Mach
die Gusche zu, als er mein erschrockenes Gesicht sah. Er blies ein paar
mal in die Okarina und erwischte zufällig den gewissen Ton. Putz
heulte auf, Großvater tat, als hätte er nichts gehört.
Da haste Glück gehabt mit deiner Eierflöte. Bis in die
Molkekanne isse geflogen, als ich dir eine gelangt hab. Beim
Schweinefüttern fiel sie in den Trog. Der dicke Karle hielt sie
für eine Kartoffel und hätt sie beinahe aufgefressen.
Danke, Großvater, danke, ich mach das nicht … ä… aber die
Eier… ä die Okarina ist doch nicht in die Kanne geflogen… ä…
die hab ich doch selber…
Papperlapapp – und nu laß gut sein, du Lausebengel!
Vorsichtshalber übte ich hinter der Scheune weiter, wo mich
Großvater und Hund nicht hören konnten. Zur Feier des Tages
spielte ich Im schönsten
Wiesengrunde.
Der Jauchegeruch war weg. Dafür schmeckte sie ein bisschen nach
Molke.
Mit der Zeit spielte ich so alle Lieder, die wir in der Schule gelernt
oder von der Mutter gehört hatten. Es waren schöne Lieder.
Weil Krieg war, gingen auch böse Lieder durchs Land. Und auch
traurige.
Am Grab vom Seidel Herrmann, der im Lazarett gestorben war und auf
unserem kleinen Dorffriedhof beerdigt wurde, spielte ein Trompeter in
Uniform das Lied vom guten Kameraden,
den eine feindliche Kugel ums
Leben brachte. Den Text lernten wir in der Schule. Er war zum Heulen
schön. Besonders die Stelle, als sich der Soldat von seinem
sterbenden Kameraden verabschiedet.
Großvater starb friedlich im Bett, ohne feindliche Kugel. An
seinem Grab wurde vom selig Ende
gesungen. Ein – wie mir damals schien
– dünnes Lied, keine Trompete. Hatte Großvater das verdient?
Ein paar Tage danach schlich ich zum Friedhof, die Okarina in der
Hosentasche. Am Zaun unter der großen Kastanie blieb ich stehen
und sah auf Großvaters Grab. Meine vor Aufregung feuchten
Hände hielten die Okarina. Würde ich die Friedhofsruhe
stören? Ich holte tief Luft und dachte ganz fest an
Großvater. Zum Grabhügel hin blies ich leise das Lied vom
guten Kameraden. Oben im Baum flötete eine Amsel die zweite
Stimme
dazu.
Ich hatte ein gutes Gefühl und spürte Genugtuung für den
Großvater.
Copyright © 2004 Horst Wolf - Über
den Autor
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