Single
forever
Roman von
Hülya Hayat - Kapitel 4
LIEBST DU MICH
NICHT,
LIEBE ICH DICH
Mein Auto steht ein ganzes Stück vom CADU entfernt und es hat
aufgehört zu regnen. Klack, klack, klack - meine
Stöckelschuhe geben mir den Takt zu einem Song, der mich heute
schon den ganzen Tag als Ohrwurm begleitet.
Sometimes
Sometimes I feel your soul
Sometimes I see you grow
Sometimes you are depressed
In times of emptiness
Sometimes you’re wild and free
Sometimes you’re light years away
Sometimes I feel you’re pain
Sometimes your hate
Refrain:
Use my imagination
Need more of your attention
Fall in the mode of passion
Sometimes I don’t react
To all you’re strange affects
Sometimes I got rid of you
Don’t know what you need to do
Sometimes I’m in love with you
There’s no space between me and you
Sometimes we’ve nothing to say
Sometimes we don’t care
Mit diesem Song haben David und ich
uns kennen gelernt… Reinhard
brachte uns zusammen. Reinhard und David hatten in Berlin zusammen
Medizin studiert. David widme einen großen Teil seiner Freizeit
der Musik und seit ihn seine Frau Martina verlassen habe, umso mehr.
Jedenfalls habe er Reinhard in den Ohren gelegen - er suche wieder ein
Band - oder einzelne Musiker, denn das wusste David - nichts brauchte
soviel Aufmerksamkeit und Zeit wie ein neues Musikprojekt. Reinhard gab
mir Davids Telefonnummer.
„Ruf ihn mal an Hülya, er ist ein ganz prima Kerl und ein
fantastischer Musiker. Seine Frau hat ihn vor einigen Monaten verlassen
und ich glaube ein wenig Abwechslung würde ihm gut tun.“
„Heeey, wie meinst du das?“ tat ich empört und
boxte Reinhard auf den Oberarm.
„Aua!“ jaulte Reinhard. „Nein, ganz im Ernst. Du
willst doch deine Songs aufnehmen. Anstatt eine Band zu suchen, wo es
dann eh nur wieder Ärger gibt, würde ich an deiner Stelle
mich nur auf einen Musiker konzentrieren.“ Reinhard hatte Recht. Seit
meine letzte Band sich in Luft aufgelöst hatte, war mein
musikalisches Engagement bis auf ein gelegentliches „Jammen“ mit alten
Musiker-Freunden, auf Null gesunken.
„Ja hallo“, meldete sich eine Männerstimme.
„Hi, ich bin Hülya. Reinhard hat mir deine
Telefonnummer gegeben. Hast du einen Augenblick Zeit?“
Wir redeten über Musik-Stile und unsere Erfahrungen in
früheren Bands und verabredeten uns für den
übernächsten Abend. Ich gab David meine Adresse und beschloss
gleich am nächsten Tag meine Gitarre auf Vordermann zu bringen.
Gepflegt sah sie nicht gerade aus, meine alte Klampfe, sie war
schrecklich verstaubt und ihre Seiten klangen blechern und wo war
überhaupt mein Stimmgerät? Zum Glück fand ich noch einen
Satz neuer Stahlseiten in meiner Musik-Kiste. Darin befand sich auch
mein kleiner Verstärker in mint grün, der eher aussah, wie
ein Kofferradio aus den Fünfzigern. In der Kiste lag
außerdem meine allererste Langspielplatte. Das „Best of Dean
Martin“. Ich liebte Jazz, als Gleichartige auf Rock-Musik standen. Dean
lächelte mir entgegen, mit seinen haselnussbraunen Augen, seiner
tief braunen süd-italienischen Haut und seinen blendend
weißen Zähnen, aus einer Zeit, als schöne Menschen noch
schön waren, so wie Gott sie geschaffen hatte und nicht weil
irgendein Schönheitschirurg, der selbst meist „naturbelassen“ war,
nachhelfen musste.
Ich werde richtig böse, wenn ich an diese Quacksalber denke, die
im Dienste der Medizin durchgeknallten Menschen für viel Geld
Gliedmaßen amputierten oder dem „Patienten“ die Beine
zertrümmerten um ihm zwei weitere Zentimeter
Leibesgröße zu schenken. Der „Patient“ bekommt dann
Titangelenke eingesetzt und muss unter qualvollen Schmerzen in einer
Rehabilitationsklinik das Gehen wieder neu erlernen. Aber den Tiefpunkt
bilden Ärzte, die Menschen so umoperierten, dass sie am Ende
aussahen wie eine Raubkatze, Echse oder ein Hund.
Bis in die Nachtstunden hinein sang ich meine Lieder und mit jedem Ton,
der meine Lippen verließ, fühlte ich mich glücklicher.
Es gab schon immer Zeiten, wo ich nicht sang - diese Zeiten waren stets
die unglücklichsten in meinem Leben gewesen. „Wo Musik ist lass
dich nieder, denn nur glückliche Menschen haben Lieder“, sagte
meine Musik-Lehrerin. Ein verstaubter alter Satz, ich weiß - aber
er ist wahr. Schon als kleines Mädchen war ich fasziniert, wenn
ich steinalten Musikern begegnete - sie wirkten auf mich so
glücklich und ausgeglichen.
Meine erste musikalische Erfahrung
machte ich mit Susanne, meiner
ersten „besten Freundin“… Wir gingen in dieselbe Klasse und
hatten den
gleichen Schulweg. Trotzdem trennten uns Welten. Sie lebte mit ihren
Eltern und ihrer Großmutter in einem Zweifamilienhaus mit
großem Garten und Hobbykeller, während ich mit meiner
Familie in einer Baracke wohnte. Das einzige Klo gleich links neben dem
Hauseingang mussten wir mit anderen Hausbewohnern teilen. Wir lebten in
zwei Zimmern - das eine war eine Wohn-Schlaf-Küche, das andere
unser Kinderzimmer. Geheizt wurde nur in der Küche. Ich glaube,
damals fror ich immer. An besonders kalten Wintertagen grauste es mir
auf die Toilette zu gehen, nicht nur, weil es da schweinekalt war,
sondern weil meist irgendjemand vor der Tür stand und mich
drängte „mal schnell zu machen“. Unsere Nachbarin Frau Kluy, eine
quirlige Frau mit einem unglaublich dicken Hintern, schimpfte jeden,
der uns Kindern in irgendeiner Form maßregelte. Sie nannte mich
„Rehlein“ wegen meiner braunen Augen und ich durfte sie dafür
„Pudding-Popo“ nennen. Sie war immer gut gelaunt und gestattete mir
sogar auf ihrem Popo zu klopfen, der dabei hin- und her wackelte, wie
Götterspeise. Als ihr Mann für längere Zeit weg war,
durfte ich bei ihr wohnen. Die Leute tuschelten, Herr Kluy sei im
Gefängnis, weil er Geld geklaut habe, aber das war mir und meinen
Eltern egal. Für uns waren die Kluys gute Menschen und von
Gerüchten dieser Art wollte insbesondere mein Vater nichts wissen.
„Die Leute reden viel“, winkte er ab, „sie finden immer etwas
Schlechtes an einem, wenn sie wollen.“ Und was mich betraf, mich
interessierte es damals herzlich wenig, womit sich die Erwachsenen ihr
Geld verdienten. Ich glaube, Ethik und Moral ist etwas für
Erwachsene. Kinder sehen ihre Welt mit anderen Augen: Nicht dass sie
Recht von Unrecht nicht unterscheiden könnten, aber sie verbringen
nicht ihre kostbare Zeit damit, bei ihren Mitmenschen nach Fehlern zu
suchen. Wenn es aber darum geht, zu erkennen, wer sie wirklich mag,
haben Kinder die feineren Antennen.
Die Kluys mochten mich sehr. Sie hatten keine eigenen Kinder und da
meine Mutter mit ihren zwei Jobs und der Familie fortwährend
überlastet war, durften die Kluys mich nach Herzenslust
verwöhnen. Irgendwann brachte mir Herr Kluy unter großem
Protest seiner Frau das Pokern bei.
„Was sollen ihre Eltern davon halten, wenn sie es erfahren, eine
Achtjährige, die pokert wie ein sizilianischer Mafiosi. Also
wirklich!“
„Aber Liebling, Hülyas Vater hat nichts
dagegen, ich habe ihn gefragt.“ Mein Vater fand, ein Spiel, das den
Verstand schärfe, könne nicht schaden. Nur um Geld sollte man
nicht spielen. Wir haben nicht um Geld gespielt, sondern um
Schokonüsse und eine Spielerin ist aus mir auch nicht geworden.
Es gab noch einen Komfort, den die Kluys boten. Ihre Wohnung war immer
mollig warm. Kein Wunder, im Gegensatz zu meinen Eltern beheizten sie
ihre Wohnung zusätzlich mit elektrischen Heizlüftern. Meine
„Ersatz-Mama“ verwöhnte mich auch sonst mit allem, was ihr zur
Verfügung stand. Besonders viel Geld hatten die Kluys nicht. Es
handelte sich auch gar nicht um materielle Dinge. Sie gab mir das, was
ich am meisten vermisste: Zeit und Aufmerksamkeit. Meine Mutter schien
immer zu arbeiten und die Mehrfachbelastung war ihr deutlich anzusehen.
Sie war tagsüber in der Wäscherei eines Altenheims
beschäftigt und in den Abendstunden putzte sie eine Arztpraxis.
Mein Vater arbeitete unterdessen als Kraftfahrer für eine
Textilfirma. Sofern es seine Zeit zuließ, half er meiner Mutter
abends bei ihrem Putzjob. Beide kamen dann gegen neunzehn Uhr nach
Hause um dann mit uns zu Abend zu essen.
Unter der Woche waren wir Kindern, insbesondere meine ältere
Schwester damit beschäftigt, die Wohnung zu putzen und kleinere
Einkäufe zu machen. Meine ältere Schwester Halima zog es
jedoch vor die Hausarbeit alleine zu erledigen. Wir „Kleinen“ seien
einfach zu schlampig. So schrubbte und fegte sie die beiden Räume
bis alles blitzte. Sie war sehr anspruchsvoll - aus heutiger Sicht
würde ich sogar sagen, zwanghaft. Wenn dann meine Mama abends voll
Bewunderung in die Hände klatschte, und ihre „Große“
für ihren Fleiß lobte, konnte man an ihrem Gesichtsausdruck
sehen, dass all ihre Mühe sich gelohnt hatte.
Mein Bruder und ich hingegen fühlten uns durch Halimas strenge Art
oft unglücklich. Sie schien uns gar nichts zu erlauben. Sie war ja
selbst noch ein Kind und suchte die Anerkennung meiner Eltern. Heute
weiß ich das. Auch das, was ihr durch die vieler Hausarbeit
entging - eine gute Schulbildung zum Beispiel. Dann kam eine Zeit wo
sie mir ihre Hausaufgaben überließ, um irgendeiner
Hausarbeit, die ihr in diesem Moment viel wichtiger war, nachzugehen.
Mir kam das recht: Die Hausaufgaben meiner Schwester waren mir allemal
lieber als ein Berg Geschirr abzuwaschen. Von da an war ich für
Behördengänge und den Schreibkram der gesamten Familie
zuständig. So fand auch ich meinen Platz.
In unserem Flur wohnte, gleich neben den Kluys ein
alter Rentner. Herr Baumgartner. Er schickte meinen Bruder oder mich
täglich zum „Rewe“ um die „Süddeutsche Zeitung“ und eine
Flasche Milch zu besorgen. Herr Baumgartner trug immer einen alten
verschlissenen Anzug und ein weißes Hemd, das er in den oberen
Knopfreihen offen trug. Eine Krawatte besaß er nicht. Er war
überzeugter Kommunist - Krawatten seien etwas für
Spießer, sagte er. Ich wusste nicht, was ein Spießer ist,
aber es musste sich wohl um etwas Schlechtes handeln. Wenn Charly
Chaplin im Fernsehen lief, rief er uns zu sich. „Schaut, das ist ein
großer Mann“, sagte er. Mein Bruder und ich kicherten heimlich.
Was der Herr Baumgartner so alles sagte? Der Charly Chaplin war doch
nicht groß! Er war ein großer Bewunderer des „Chess“. Er
liebte Chaplin nicht nur wegen seines schauspielerischen Talentes,
sondern vor allen Dingen für seine politische Haltung. Als Kind
interessierte mich Chaplins politische Gesinnung nicht und was ein
Humanist oder Kommunist war ebenso wenig. Heute weiß ich jedoch,
dass Chaplin zu einer Zeit, wo man in den Vereinigten Staaten allzu
schnell als vermeintlicher Kommunist verfolgt wurde, Werke wie „Der
große Diktator“ oder „Modern Times“ gedreht hatte? Noch was.
Trotz seines riesigen Erfolges zog es Chaplin vor, seine englische
Staatsbürgerschaft beizubehalten - er machte sich damit wohl nicht
gerade beliebt, aber so blieb er sich selbst treu.
Als ein deutscher Nazi während einer Abendgesellschaft über
die irrsinnigen Ziele Hitlers vor einer Gruppe Menschen prahlte, war
auch Chaplin zugegen. Der Deutsche erkannte den Künstler und
reichte ihm die Hand mit den Worten: „Hallo Mr. Chaplin, ich bin ein
großer Bewunderer Ihrer Filmkunst.“ „Ich gebe einem Nazi nicht
die Hand!“ soll Chaplin entgegnet haben. Einer der anwesenden
Gäste habe daraufhin das „rüpelhafte Benehmen“ des
Künstlers damit entschuldigt, dass er Jude sei. „Nein meine
Herren, diese Ehre habe ich nicht!“ habe Chaplin darauf hin geantwortet
und umgehend den Saal verlassen.
Noch heute sehe ich ihn vor mir - unseren Herrn Baumgartner - wie er
dasaß, in gebeugter Haltung, auf der brüchigen Bank vor
unserer Baracke ein Pfeife paffend. Man sah ihn nie ohne seine Pfeife -
sie schien an seinem Mundwinkel angewachsen zu sein. Mit zittrigen
Händen hielt er die „Süddeutsche“ umklammert und war für
die nächsten Stunden nicht mehr ansprechbar. Irgendwann, wenn es
nichts mehr zu lesen gab, faltete er ordentlich seine Zeitung zusammen
und meinte, es sei sehr wichtig welche Worte man in sein Gehirn
ließe. Man solle sich die Literatur, die man sich einverleibt,
sehr genau aussuchen.
Eines Tages gab er mir das Buch „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“.
„Lies das!“ forderte er mich auf. Ich hatte keine Lust dazu, sagte aber
nichts. Was sollte ich damit, niemand in meiner Familie las
Bücher. Aber dann versprach Herr Baumgartner mir eine
Riesenportion Eis, wenn ich es läse. Kinder sind ja so
bestechlich. Dann geschah das Unerwartete. Ich las das Buch nicht nur -
ich verschlang es förmlich. Meine Lektüre wurde von Herrn
Baumgartner um „Robinson Crusoe“ und die „Schatzinsel“ erweitert. Somit
war mein heimlicher Drang als „herumstreunende Zigeunerin“ und
„Überlebenskünstlerin“ zu leben, geboren. Meine Mutter war
etwas besorgt, weil ich mich so gar nicht für Hausfrauensachen
interessieren wollte. Immerhin sollte ich doch eines Tages eine Familie
führen. „Lass sie“, beruhigte sie mein Vater. „Stör‘ sie
nicht. Es ist gut wenn ein Kind liest. Sie wird eines Tages Ärztin
oder Anwältin, dann kann sie sich eine Haushälterin leisten,
die ihr die Hausarbeit macht.“ Aus mir ist weder eine Ärztin noch
eine Anwältin geworden. Ich habe nicht einmal das Abitur. Aber ich
danke meinem Vater dafür, dass er mir den Weg zur Literatur nicht
versperrt hat.
In den anderen Baracken wohnten Ausländer, Zigeuner und sozial
schwache Deutsche. Die Menschen aus den umliegenden Straßen
nannten uns die „Asozialen“ und verboten ihren Kindern mit uns zu
spielen. Das Wort „asozial“ wurde somit, das erste Fremdwort, das ich
in meinem Leben lernte.
Jeden Sonntagvormittag war Badetag. Meine Mutter heizte den Ofen schon
frühmorgens kräftig ein und steckte uns nach dem
Frühstück in eine Plastikwanne und wusch und schrubbte uns
bis wir glänzten. Zwei Eimer vollgefüllt mit warmem, beinahe
heißem Wasser pro Kind hielten dafür her. Wir mussten uns in
die leere Wanne setzen, während meine Mutter mit einem
„Hamam-Becher“, einer Messingschüssel in der Größe
eines Müslibechers, Wasser aus den Eimern schöpfte und uns
fortwährend über den Kopf kippte. Wenn eines der Kinder
fertig war, wurde es in ein Handtuch gewickelt, kräftig
abgerubbelt und von gelegentlichen Kitzelattacken unterbrochen,
angezogen. Erst wenn es mollig warm eingepackt, mit einem Cay-Glas in
der einen Hand und einem Keks in der anderen Hand auf dem Sofa
„geparkt“ war, war das nächste Kind an der Reihe. Vorher brachte
sie das schmutzige Wasser nach draußen um es in den Kuli zu
gießen. Die Wanne wurde dann mit Seifenwasser gründlich
ausgewaschen, bevor das nächste Kind darin Platz nehmen durfte.
Meine „Anne“ liebte es uns Kindern zu baden. Ich glaube, das ist ein
Urtrieb den Mütter haben. Wenn dann ihre Kinder alle sauber und
satt auf dem Sofa kauerten, schaltete sie den Fernseher ein, damit wir
pünktlich um vierzehn Uhr „Flipper“ ansehen konnten. Ein Wunder,
wie sie das immer wieder hinbekam - dass die Badeprozedur zeitgleich
mit dem Beginn der beliebten Fernsehsendung endete.
Wir liebten Flipper. Dieser ewig schnatternde, süße Delphin,
der mein Herz im Sturm erobert hatte. Zu dieser Zeit wurde auch der
Vierteiler von Mark Twain „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“
ausgestrahlt. Erst liebte ich Tom, dann Huck. Tom war zwar kein
Spießer, aber gegen Huck kam er einfach nicht an. Heute
würde ich sagen - Huck war cool und irgendwie sexy. Insgeheim
wollte ich so sein wie Huck. Dass das nicht ging war mir klar,
außerdem hätte ich mich doch gefürchtet so alleine in
einem alten Fass am Meer zu schlafen. Aber darum ging es ja auch nicht.
Es war die Freiheit und Zügellosigkeit, die Huck umgab. Als dann
Pipi Langstrumpf einige Zeit danach den Fernsehhimmel eroberte, hatte
ich meine persönliche Heldin gefunden. Huck und Pippi - Pippi und
Huck - die beiden hätten sicher viel Spaß miteinander gehabt.
In der Baracke gegenüber wohnte eine Zigeuner-Familie, die neben
achtzehn eigenen Kindern eine immerträchtige
Schäfer-Hündin Namens Flora hatte. Wir Mädchen spielten
viel lieber mit Floras Welpen, als mit Puppen. Wir steckten die Kleinen
in Puppenwägen und versuchten sie mit der Flasche zu füttern.
Frau Machotka, die „Mamma“ und heimliche Patronin der Familie, trug
stets ein enges, schwarzes Kleid mit tiefem Decollete und rauchte
„Salem ohne“. Natürlich war sie in meinen Augen eine alte Frau,
aber trotz ihrer vielen Geburten schien sie immer noch Sex-Appeal zu
besitzen. Nicht nur mein Vater, auch andere Männer in der
Nachbarschaft sahen sie auf eine ganz bestimmte Art an - „das ist ne
heiße Frau“, bemerkte einmal Herr Kluy, der betrunken neben
meinem Vater saß und den Arm um seine Schultern gelegt hatte.
Mein Vater prostete ihm mit seinem Cay-Glas zu und nickte.
Herr Machotka, der von seinen Kindern „Data“ genannt wurde, saß
meistens mit Flora zu seinen Füßen vor dem Haus auf einer
Bank und rauchte Zigarillos. Unfreiwillig wurde er unser
Schiedsrichter, wenn wir „Pfennig-Fuchsen“ spielten. Zugegeben, es war
ein Glücksspiel, aber viel mehr ging es um Geschicklichkeit: Wir
warfen dabei Geldstücke gegen eine Wand und der Spieler dessen
Geldstück der Wand am nächsten war, gewann. Allerdings musste
er noch die Münzen mit einem Schwung von der Handinnenfläche
auf die Handoberfläche befördern, dann mit einem Satz in die
Luft werfen und mit derselben Hand wieder einfangen. Wenn ihm bei
dieser „Akrobatik-Einlage“ einige Münzen auf den Boden fielen,
gehörten sie dem zweiten Gewinner, der dieses Kunststück
wiederholte, bis auch das letzte Geldstück in irgendeine
Hosetasche wandern durfte.
Herr Machotka musste gelegentlich einen Streit schlichten oder uns zum
Aufhören bewegen, wenn unser Spieltrieb mit uns durchging und wir
Gewinne in astronomischer Höhe von zwei Mark überschritten
hatten. Herr Machotka war bei seinen Vermittlungen allerdings stets
gerecht. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass er jemals
seine eigenen Kinder bevorzugt hätte. Aber, manchmal hatte er
keine Lust, sich in „Kinder Angelegenheiten“ einzumischen. „Lasst mich
in Ruhe“, murrte er dann und zog kräftig an seinem Zigarillo.
Dabei formte er seinen Mund zu einem „O“ und wir wussten, dass gleich
kunstvolle kleine Rauchkringel seinen Mund verlassen würden. Wir
vergaßen unseren Streit und klatschten begeistert in die
Hände.
Manchmal brachte meine Mutter Cay und Börek nach draußen und
setzte sich dazu. Von den achtzehn Kindern lebten „nur“ noch zwölf
zu Hause, die anderen waren erwachsen und hatten bereits eigene Kinder.
Jeden Sonntag kamen die „Großen“ ihre Eltern besuchen und parkten
ihre auf Hochglanz polierten Autos vorne auf der Straße. Herr
Machotka hatte seinen Söhnen das Scherenschleifen beigebracht,
womit sie neben gelegentlichen Tagelöhner-Jobs ihren
Lebensunterhalt verdienten. Sie waren Sinti, und ihr Heimatland war das
heutige Tschechien. Die Machotkas sprachen eine Mischung aus
tschechisch, Sinti und Deutsch. „Dig da nascht a glisti“ hieß
„Schau, da kommt die Polizei“. Ich will hier nicht den Eindruck
erwecken, dass diese Leute kriminell waren (wahrscheinlich wurden sie
besonders oft von der Polizei kontrolliert), aber diesen Satz habe ich
nun mal behalten. Ein zweimal war die Polizei auch wirklich da, weil
irgendeines der Kinder etwas geklaut hatte - aber tun das nicht auch
Kinder reicher Leute?
Die „Machotka-Kinder“ gingen alle in die Sonderschule, bis auf Rosa.
Rosa und ich besuchten die dritte Klasse einer stinknormalen
Grundschule. Ihre Augen hatten das gleiche „blau“ ihres Vaters und
konnten ebenso funkeln, wenn sie wütend wurde. Obwohl sie erst
neun Jahre alt war, trug sie fortwährend ihren jüngsten
Bruder Karl durch die Gegend. Der Kleine schien an ihre Hüfte
angewachsen zu sein. Sobald sie ihn weglegte, schrie er. Zwischen den
Baracken befanden sich Spielwiesen und - man staune - ganz ohne
Verbotsschilder. Es gab auch keinen Hausmeister, der uns von dort
wegjagen konnte. Ein Kinderparadies. Wir spielten draußen bis es
dunkel wurde und in den Sommerferien verbrachten wir dort manchmal die
Nacht in einem Zelt.
Wenn ich Ihnen das alles erzähle, könnte man den Eindruck
gewinnen, die Erwachsenen, die mich in meiner Kindheit umgeben haben,
waren alle weise und gut. Natürlich war das nicht so! Es gab auch
die Anderen - ein Polizist zum Beispiel, der uns Kindern nachts bei
einem unserer Ausflüge hinterhergelaufen war und dabei mich
erwischt hatte, schlug mich ins Gesicht. Meine Nase blutete und meine
Lippe war aufgeplatzt. Dann ließ er mich los und ging zurück
zu seinem Polizeiauto - ich war damals Neun. Meinen Eltern habe ich das
nie erzählt. Diese und ähnliche Geschichten sind nicht
ungeschehen oder vergessen, aber ich erzähle lieber von Menschen,
die mich positiv beeinflusst haben.
Die Weihnachtsfeste bei den Machotkas haben meine Liebe zu Weihnachten
stark geprägt. Nie wieder in meinem Leben habe ich so schöne
Weihnachtsfeste erlebt, wie dort. In ihrem kuschelig-warmen Wohnzimmer
saßen dann achtzehn Kinder, eine Hündin mit ihren Welpen und
zahlreiche Säuglinge, die von einem Arm zum anderen gereicht
wurden. Und wir, die türkischen Nachbarn mit ihren vier Kindern
mittendrin. Heiligabend war eher wie eine Party, denn wie ein
besinnliches Familienfest. Aus den Kinderzimmern dröhnten die
aktuellen Hits und die beiden Toiletten waren ständig besetzt,
weil die Mädchen sich dort schminkten oder heimlich rauchten. Die
Jungs gingen zum „Heimlich-Rauchen“ lieber nach draußen und
jagten Silvesterknaller in die Luft. Es roch nach selbstgebackenen
Plätzchen und frischem Kaffee. Ein riesiger knallbunt
geschmückter Weihnachtsbaum schien uns alle mütterlich in den
Arm zu nehmen. Später gab es leckeres böhmisches Essen und
Bier. Nach dem Essen versammelten wir uns vor dem einzigen Fernseher im
Wohnzimmer und sahen uns „Sissi - die Kaiserin“ - oder „Lederstrumpf“
mir Raimund Harmstoff, an. Die Bescherung war stets chaotisch und von
gelegentlichen Weinkrämpfen der Kleinen unterbrochen.
Eifersuchtsausbrüche waren an der Tagesordnung. Frau Machotka
packte dann die Streithähne an den Ohren und schickte sie in das
Kinderzimmer. Selbst meine Mutter trank zur Feier des Tages ein wenig
Bier - obwohl doch Alkohol für Moslems verboten war - aber hier
ging es um mehr - es ging um Freundschaft. Allah würde das schon
verstehen!
Zu dieser Zeit hatte ich quasi zwei „beste Freundinnen“. Susanne, das
Mädchen aus der Nobelgegend und Rosa. Wir drei gingen in dieselbe
Klasse. Im Gegensatz zu den anderen Kindern aus der Gegend durfte
Susanne mit uns spielen. Ihre Eltern hatten keine Angst davor, dass wir
„Schmuddelkinder“, wie man uns in der Nachbarschaft nannte, ihr
einziges Kind verderben könnten. Allerdings kam Susanne mich oder
Rosa niemals besuchen. Den Grund dafür weiß ich nicht mehr.
Möglicherweise hatte ich sie nie danach gefragt. Jedenfalls war es
bei ihr ganz anders als bei uns - nicht so chaotisch - aber nicht
minder liebevoll. Das lag mit Sicherheit an Susannes Großmutter,
Frau Nicklas. Es ist schon sonderbar, aber ich erinnere mich nicht mehr
an Frau Nicklas‘s Gesicht. Ich erinnere mich nur an das Gefühl,
das sie in mir auslöste. Sie war eine warmherzige und ruhige alte
Dame, die mir oft Komplimente machte. Es gab eine Zeit, da ging ich
beinahe täglich dorthin um zu Spielen. Meinen Eltern war das
recht. Diese deutsche Familie brachte mir gute Manieren und eine gute
Ausdrucksweise bei. Außerdem machte ich dort meine Hausaufgaben.
Häufig ging ich direkt nach der Schule zu Susanne, wo ein leckeres
Mittagessen auf uns wartete. Pünktlich um fünfzehn Uhr musste
meine deutsche Freundin ihre Klavierübungen machen, manchmal sang
ich dazu, wobei ich das mit dem Musizieren nicht sonderlich ernst
nahm. Als Susanne aber nach der vierten Klasse das Musische Gymnasium
besuchen sollte, fragte mich Frau Nicklas, ob ich nicht auch dorthin
gehen wolle, schließlich waren meine Noten gut. Auch meine
Lehrerin riet meinen Eltern dazu - schriftlich - denn zu den
Elternsprechtagen gingen sie nie hin. Meine Eltern kümmerten sich
nicht um solche Dinge - solange keine Beschwerden seitens der Schule
auf sie zukamen - ließen sie uns gewähren. Ich wurde
während meiner ganzen Schulzeit nicht ein einziges Mal zum Lernen
aufgefordert. Ich tat es einfach, weil ich Lust dazu hatte. Oder auch
nicht. Frau Nicklas nahm das Ganze dann selbst in die Hand: Sie
schenkte mir eine alte Geige und ging mit mir zum Gymnasium, wo Susanne
bereits eingeschrieben war, um mich dort anzumelden.
Kopfschüttelnd schickte man uns wieder weg, die Eltern
müssten schon selbst kommen, verlangten sie. Ich weiß nicht,
was danach geschah, aber das mit dem Gymnasium und der Musik schlief
irgendwie wieder ein. Die Geige habe ich nicht behalten.
Zurück zu David…David und ich wollten uns treffen, um gemeinsam
Musik zu machen. Aber wir wussten beide, dass es sich bei unserem
Treffen nicht nur um die Musik ging. Ich war Single und er war wieder
Single. Und das mit der Musik war ein unverfänglicher Rahmen
für ein Blind-Date, den unser gemeinsamer Freund Reinhard so fein
eingefädelt hatte. Wir mussten uns nicht gefallen, aber wir
konnten! Echte Blinde-Dates sind nervig. Man trifft sich mit einer
wildfremden Person, mit der man bestenfalls einen unterhaltsamen Abend
verbringt, um sich danach nie wieder zu sehen. Und manchmal würde
man am liebsten bereits nach dem ersten Händedruck das Weite
suchen. Das war dann der Moment, an dem man das Telefon, das einem so
bitter getäuscht hatte wieder einmal verfluchte. „Offline-Schock“
nennt man so was.
Ich freute mich auf David. Und ich freute mich auf das gemeinsame
Musizieren. Für den Abend mit David hatte ich eine Kleinigkeit zu
Essen vorbereitet. Mikail deckte gerade den Tisch, als es klingelte. Es
war ein sehr kalter Winterabend. Über Nacht brach eine
Kältewelle ein, die selbst den größten
„Mützenhasser“ zwang, sich wie ein Eskimo einzumummen. David kam
völlig durchgefroren bei uns an.
„Mein Auto ist heute Morgen nicht angesprungen“, erzählte er,
während er seinen Mantel auszog. Er rieb sich die Hände.
„Kalt!“ sagte er und sah sich um. Er trug eine schwarze Jeans und einen
weißen dicken Pullover mit Zopfmuster. Als ich ihn zur
Begrüßung auf die Wange küsste, vernahm ich eine
Mischung aus Tabakgeruch und einem verdammt leckeren Aftershave. In
diesem Moment spürte ich, was mir in den letzten drei Jahren
gefehlt hatte. Es waren diese kleinen Dinge wie das Pieksen einer
unrasierten Wange oder das Strecken nach einem Mann, der Zweikopf
größer war als ich.
„Fahrenheit!“ sagte ich. David sah mich fragend an.
„Du trägst Fahrenheit diesen Duft...!“ Was
redete ich da?
„Ich mag ihn - diesen Duft“, stammelte ich nun und
machte alles schlimmer. David schien sich zu amüsieren. Er verbarg
mit Mühe ein Lächeln.
„Danke!“ Er sah mich lange an. Ich konnte seinen
Blick nicht halten. Ich war verlegen und schüchtern wie eine
Vierzehnjährige bei ihrem ersten Date.
„Ich zieh wohl besser meine Stiefel aus“, entschied
David. Verdammt, er stand da, zog in aller Ruhe seine Stiefel aus und
zeigte nicht den geringsten Hauch von Unsicherheit, während ich
von einem Fuß auf den anderen trat und wirres Zeug von mir gab.
David stellte seine matschigen Stiefel ordentlich auf das Schuhregal
rechts neben der Eingangstüre.
„Warte ich gebe dir warme Socken“, sagte ich schnell
und kam mit ein paar dicken Ski-Strümpfen zurück.
„Hmm, hier duftet es aber gut“, bemerkte David und
folgte mir in meine Wohnküche. Mikail hatte einige Kerzen zum
Abendessen angezündet.
„Wir machen das immer“, erklärte ich. Er sollte
nicht denken, ich wolle für romantische Stimmung sorgen.
„Wir auch“, sagte David. Seine Stimme klang rauh.
„Das heißt, wir machten das auch, Martina und ich.“ Nun sah auch
er verlegen aus. Also doch nicht „Mr. Cool!“
In diesem Moment spürte ich, dass David noch lange nicht über
seine Frau hinweg sein konnte. Wie denn auch? Schließlich waren
sie über zwanzig Jahre verheiratet gewesen. Ihre Ehe blieb
kinderlos und Martina hatte sich vor einem Jahr in einen anderen Mann
verliebt. Nun sei sie schwanger, von ihrem neuen Freund, der zehn Jahre
jünger war als David. All dies hatte mir Reinhard ausgeplaudert.
„Setzen wir uns?“ Ich zeigte auf eines der Korbstühle. Das Essen
schmeckte gut und der Wein, den David mitgebracht hatte, passte
hervorragend dazu. Mikail zeigte sich zu meiner Freude von seiner
besten Seite. Kein Wunder, David „outete“ sich als „Manga-Fan“. Die
beiden tauschten „Internas“ über die neuesten Manga-Bücher
aus, bis Mikail sich artig verabschiedete und sich in sein Zimmer
verzog.
David hatte seine Gitarre nicht mitgebracht. Ein wenig wunderte mich
das schon - schließlich sind Musiker in dieser Beziehung ganz
eigen. Er räusperte sich.
„Wollen wir anfangen?"
Ich ging in mein Schlafzimmer um die Gitarre zu
holen.
„Habe sie gerade eben gestimmt, aber wenn du möchtest...“ Ich
reichte David die Gitarre und das Stimmgerät. „Warte!“ sagte ich
dann und kam mit der Zweitgitarre zurück. Gemeinsam stimmten wir
die Gitarren neu und ich begann damit einige Akkorde anzuspielen. Ich
sang nicht. Warum war ich nur so nervös? Dann atmete ich tief
durch und rief mich innerlich zur Gelassenheit. Von da an galt meine
Konzentration der Musik. Es war nicht so, dass ich nicht mehr
registrierte, dass ein unglaublich attraktiver Mann mir gegenüber
saß, der mir von Minute zu Minute mehr gefiel, aber der
Flirtfaktor rutschte gewissermaßen unter die Nullgrenze.
Vermutlich ging es ihm ebenso. Er schien völlig in seinem
Gitarrenspiel auf zu gehen. An besonders schwierigen Stellen zog er ein
wenig die Schultern nach oben und presste die Lippen fest aufeinander.
Als er dann noch seine Augenbrauen ergriffen hochzog, musste ich mich
zusammen reißen, um nicht laut aufzulachen. David begleitete mich
mit völliger Hingabe und an manchen Stellen beinahe lautlos. Ihm
ging es nicht darum mich zu beeindrucken oder mich an die Wand zu
spielen. Ihm ging es einzig allein um den Klang zweier Instrumente.
Als wir eine Pause einlegten, sagte ich ohne ihn anzusehen „Du bist
sehr gut. Da komme ich mir wie eine Anfängerin vor.“ David
antwortete nicht. Stattdessen strich er mir mit seinem Handrücken
sanft über die Wange.
„Es war sehr schön. Ich mag deine Stimme“,
sagte er als er sich von mir verabschiedete. Ich freute mich wie eine
Zweitklässlerin, die eine Eins bekommen hatte.
„Wir müssen das ganz bald wiederholen, ja?“
„Na klar! Nächsten Freitag?“ fragte ich.
„Und was ist mit Morgen?“
„Nä, da geht’s leider nicht“, log ich. „Ich
habe erst nächsten Freitag Zeit.“
Als ich später im Bett lag, freute ich mich auf das, was mir
bevorstand. Ich würde jeden einzelnen Tag bis zu unserem
nächsten Treffen in freudiger Erwartung genießen: Würde
im Auto wieder meine Lieblingslieder hören und weniger essen, weil
ich innerlich satt war. Ganz gleich, ob sich zwischen David und mir
etwas entwickeln würde, ich würde nichts ereilen.
David rief mich gleich am nächsten Morgen im Büro an. Seine
Stimme klang jetzt schon so vertraut. Ob ich Lust hätte, mit ihm
Essen zu gehen, fragte er mich. „Ja,
ja und wie ich Lust habe!“ schrie
ich innerlich. Aber hatte ich nicht jedes Mal fürchterlich
gelitten, wenn ich es einem Mann zu leicht gemacht hatte? Wir
würden essen gehen und danach würde er sich nicht mehr
melden. Und ich? Ich würde das Telefon bewachen und
unglücklich sein, weil ich wieder einmal derjenige sein
würde, der mit seinen Gefühlen schneller war, an dem anderen
vorbei raste, wie bei einem Autorennen. Und war nicht immer derjenige
im Nachteil der sich zuerst verliebte? Nein, diesmal sollte es anders
sein. Es musste anders sein. Dieses eine Mal wollte ich mir Zeit
lassen, mehr Zeit als sonst. Viel mehr Zeit als sonst. Deshalb log ich:
„Oh, nein, das geht nicht. Entschuldige. Ich muss
meine Steuer machen. Wir sehen uns ja dann am Freitag nächste
Woche. Okay?“
„Okay“ murmelte David. Seine Stimme klang kühl.
Wenn ein Mann mir gesagt hätte, dass er sich mit mir nicht treffen
könne, weil er seine „Steuer“ machen müsse, hätte ich
ihm kein Wort geglaubt. Zumindest wäre ich davon ausgegangen, dass
ich nicht so toll für ihn gewesen sein konnte, sonst hätte er
ja sogar seine Großmutter für mich stehen lassen.
Meine Zurückhaltung verfehlte seine Wirkung nicht. Männer
waren ja so einfach zu lenken. David musste nun eine Woche bis zum
Wiedersehen warten, ob er wollte oder nicht. Das Spiel war
eröffnet. Doch gab es hier am Schluss überhaupt einen Sieger?
Und musste dieses Spiel von Nähe und Distanz wirklich sein, um die
Aufmerksamkeit eines Mannes für immer zu sichern? Eigentlich hatte
ich keine Lust auf diese Dinge. Aber ich wusste nicht, wie ich es sonst
anstellen sollte - zu groß war die Angst, Davids Interesse zu
schnell zu verlieren. Irgendeine Diva, ich glaube Marlene Dietrich war
es, soll einmal gesagt haben, nichts mache eine Frau in den Augen eines
Mannes so schön, wie wenn sie es verstünde, sich im richtigen
Moment zurückzuziehen.
Es gab allerdings noch einen anderen Grund, einen vernünftigen
Grund für meine Zurückhaltung: Martina. David war mit Martina
zwanzig Jahre zusammen gewesen. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr
hatte er nur eine Frau geliebt. Na ja, das heißt nicht, dass er
immer nur sie geliebt haben muss - vielleicht hatte er sie ja auch mal
betrogen. Aber er war bei ihr geblieben und das zählte. Ich hatte
den Verdacht, dass David sich per tout verlieben wollte. Wahrscheinlich
musste er sich verlieben um zu überleben. Und wenn ich mich
dafür hergab, würde er nach einer anfänglichen
Begeisterung für mich, anfangen seine Frau zu vermissen. Also,
musste ich warten. Ich fühlte, dass ich ihm gefiel - und er?
Davids Sensibilität und Ruhe entflammten in mir eine bis dahin
unbekannte Leidenschaft einem Mann gegenüber, der eigentlich gar
nicht mein Typ war. Männer, die in ihrem Leben nur mit einer Frau
zusammen gewesen waren, fand ich bislang langweilig. Dieser Mann jedoch
war anders als die Männer, in die ich mich bisher verliebt hatte.
Oder war ich selbst diejenige, die anders geworden war, reifer, weniger
oberflächlich, so dass mir Eigenarten eines Mannes plötzlich
zusagten, die ich früher als spießig abgetan hätte?
Vielleicht lag es daran, dass ich das Gefühl hatte, dass ER es
war, auf den ich ein Leben lang gewartet hatte.
„Bla, bla, bla!! Glaubst du das
nicht jedes Mal, wenn du dich neu
verliebst?“ sagte meine innere Stimme. Wenn ich ganz ehrlich
bin,
glaubte ich das wirklich jedes Mal.
Okay. Offenbar hatte ich bei Amor bislang noch keinen Hauptpreis
gezogen, aber waren nun all die Männer, die ich bisher geliebt
hatte nur „Trostpreise“? Kann mir jemand sagen, wie es sich
anfühlt, wenn man eines Tages „Mr. Right“ begegnete? Dieses
gewisse etwas, diese Magie zwischen zwei Menschen, die offenbar jeder
kannte, nur nicht ich.
Meine Freundin Nathalie zum Beispiel: Sie habe ihren „Mr. Right“ auf
einem Straßenfest kennen gelernt. Sie habe ihn gesehen und den
tiefen Drang gespürt ihn anzusprechen. Das sei absolut gegen ihre
Art gewesen, noch nie habe sie einen Mann angesprochen. Nathalie hatte
das auch gar nicht nötig. Sie konnte sich kaum retten vor „Dates“.
Aber eben bei diesem einen Mann, war es anders gewesen. Sie fühlte
sich von ihm angezogen wie von einer höheren Macht. Ihm sei es
genauso gegangen, erzählte Nathalie. Auch er habe sie vom ersten
Moment an geliebt. Immerhin sind die beiden nun seit mehr als zehn
Jahren zusammen. Menschen wie Nathalie waren offenbar zum richtigen
Zeitpunkt am richtigen Ort - dann ein hin- und her fliegender Amor, der
brav seine Pfeile verschießt und schon hatten wir ein
Pärchen mehr, das seinen Seelenverwandten gefunden hatte und im
Siebten Himmel der Glückseligkeit schwebte.
Warum passierte mir so etwas nicht? Nu mal sachte! Vielleicht stand es
mir ja noch bevor? Aber wissen Sie was? Wenn ich ehrlich bin, glaube
ich eigentlich gar nicht an die ganze Schmuse-Kiste voll gepackt mit
Magie, Kismet und Schicksal. Ich weiß, es klingt total paradox,
aber genau deshalb glaubte ich jedes Mal, ich sei dem „Mr. Right“
begegnet.
Also, was tun? Eine neue Liebe im Keim ersticken, nur weil man beim
ersten Treffen kein Symphonie-Orchester hörte? Oder sollte man die
gegenwärtige Beziehung halbherzig führen und hoffen, dass man
eingebettet in einer halbwegs guten Partnerschaft diesen so genannten
„One-and-only-Dream-Man“ irgendwann treffen würde, um dann im
richtigen Moment den gegenwärtigen Partner in den Mond zu
schießen?
Nein, so ging es nicht weiter! Zuerst musste ich damit aufhören,
ständig jede kleinste meiner Regungen analysieren zu wollen. Was
wollte ich eigentlich? Die Formel knacken wie man den richtigen Partner
findet und sehr wichtig - ein Leben lang halten kann? Wollte ich
wirklich einen Mann für das ganze Leben? Hah! Für das halbe
Leben sollte ich vielleicht sagen, schließlich bin ich ja
über vierzig! Ich beschloss für diesen Tag nicht mehr an
David und mein Liebesleben zu denken - anstatt dessen setzte ich mich
an meinen Schreibtisch und widmete mich meiner Einkommenssteuer.
In den darauf folgenden Tagen erhielt ich täglich zwei
Kurzmitteilungen von David. Eine morgens und eine abends. Es war ihm
wohl völlig egal, ob ich seine kleinen Liebesbotschaften
beantwortete oder nicht. Einerseits war ich überglücklich,
dass er mir hinterherlief - andererseits war ich von seiner
Begeisterung für mich etwas enttäuscht. Wie?
Enttäuscht!? Werden Sie jetzt vielleicht sagen. Ich erkläre
es Ihnen: Nach unserem ersten Treffen hatte ich den Eindruck, er sei
derjenige von uns beiden, der schwer zu kriegen war. Ich hatte mich
schon innerlich auf eine langsam wachsende Annäherung eingestellt.
Aber dann diese vielen E-Mails. Irgendwie passte diese Haltung nicht zu
ihm. Sein Werben wirkte auf mich hektisch - ja beinahe aggressiv. Meine
sehr seltenen Reaktionen auf seine Liebesbekundungen formulierte ich
stets im kumpelhaft unverbindlichen Ton. Je zurückhaltender ich
wurde, desto extrovertierter und leidenschaftlicher wurden seine
Formulierungen. Wahrscheinlich denken Männer, es handele sich bei
einer Frau um ein besonders seltenes Exemplar, wenn es gar so schwer
war ihr Herz zu erobern. Ich bin sicher, dass Sie, liebe Leserin dieses
Gefühl kennen: Einerseits fühlt man sich wie eine
Göttin, andererseits, weiß eine kluge Frau ganz genau, dass
das Verfallsdatum derselben schnell erreicht ist.
Ich fragte mich - ganz ernsthaft - wie lange würde ich es noch
aushalten so „cool“ zu sein? Irgendwann würde er es doch merken,
dass ich ihn genau so wollte. Oder hatte er etwa mein Spiel längst
durchschaut und genoss es auf eine sonderbare Weise zu leiden.
Vielleicht kam ich ja gerade recht. Er, der Verlassene wurde durch eine
neue Liebe abgelenkt, während die eigentliche Königin seines
Herzens auf und davon war. Oh Nein! Ich erschrak. Am Ende war ich nur
so eine Art „Selbstbewußtsein-Aufbau-Camp“ – ich sollte sein Ego
aufbauen, ihn voll tanken, damit er zur gegebenen Zeit seine Ex wieder
neu anbaggern konnte.
„Schluss jetzt!“ mahnte
mich mein innerer Mentor. „Aufhören
sofort! All diese Überlegungen bringen dich keinen Deut weiter.“
Nun ja, bis zu unserem nächsten Treffen waren es nur noch zwei
Tage. Zwei klitzekleine Tage. Also lief ich zum Kleiderschrank um mich
für den restlichen Abend der Garderobenfrage zu widmen.
Endlich war es so weit. Wir trafen uns wieder bei mir, um an den Songs
weiter zu arbeiten. Es kostete mich unendlich viel Kraft, ihm meine
wahren Gefühle nicht zu zeigen. Jedes mal wenn er mich ansah,
blickte ich weg, meine Bewegungen waren fahrig, mein Tonfall piepsig.
Als er irgendwann die Gitarre wegstellte und meine Hand berührte,
zuckte ich zusammen. Er sah mich fragend an. „Hör zu David! Wir
sollten hier ausschließlich arbeiten und nicht flirten.“ Ich
hatte ihn vor den Kopf gestoßen. Etwas sanfter sagte ich, „Wenn
du möchtest können wir nächste Woche einmal essen
gehen?“ Nun blickte ich ihn an wie ein Auto, das seine Scheinwerfer
plötzlich angeworfen hatte. David lehnte sich nach hinten und
schwieg. „Gut, ich habe verstanden“, sagte er nach einer Ewigkeit. Dass
er immer so lange Pausen machen musste! „Passt es dir am Dienstag?“
fragte ich schnell und räumte die Notenblätter zusammen.
David nickte. „Ach ja, wenn es dir recht ist, hole ich dich mit meinem
Auto ab“, warf ich noch hinterher. Viel lieber hätte David mich
abgeholt, aber das ließ ich nicht zu - noch zu deutlich war mir
der Flop mit meiner letzten Verabredung in Erinnerung geblieben - als
ich nach einem gescheiterten Rendezvous, mitten in der „Pampa“ ein Taxi
nehmen musste. Nein danke! Außerdem hatte ich mich besser im
Griff, wenn ich mein eigenes Auto lenkte.
In den nächsten Tagen schrieb mir David keine SMSen mehr. Er rief
auch nicht an. Das war mir nun auch nicht recht. Er sollte mir schon
schreiben, aber nicht so oft.
Endlich war es Dienstag. Gegen neunzehn Uhr fuhr ich von zu Hause los -
das war zwar reichlich früh, aber ich wollte unbedingt
pünktlich sein. „A6 Richtung Nürnberg zwanzig Kilometer Stau
wegen Bauarbeiten. Bitte fahren sie vorsichtig. Wegen gefrierender
Nässe kann es zu Glatteisbildungen kommen“, sagte die
Nachrichtensprecherin aus dem Radio. Ich schaltete den Kassetten
Rekorder an. Ich hatte keine Lust zum zwanzigsten Mal am Tag „Madonna“
oder „Robbie Williams“ zu hören. Stattdessen ließ ich mich
von alten Songs der göttlichen ‚Hildegard Knef’ verzaubern.
David wohnte in der Kaiserstraße, mitten in Schwabing, allein die
Parkplatzsuche würde eine halbe Stunde verschlingen. Zwischen
Fahrradständern und Mülltonnen suchte ich mir den Weg zu
seinem Hauseingang. Ah, hier war er. Ein altes Metallschild mit
rostigen Nägeln und altdeutscher Schrift blinkte vor mir auf:
Kaiserstraße dreiundsechzig. Wie war doch gleich noch mal sein
Nachname? Hatte er nicht erwähnt, dass er im zweiten Stock wohne?
Ich ging noch einmal einen Schritt zurück und blickte die Fassade
hinauf und sah wie das Licht im Treppenflur anging. Mit schnellen
Schritten rannte jemand die Stufen herunter und riss die Türe auf.
„David!“ sagte ich und es klang wie eine Frage. Er war ganz außer
Atem.
„Hi Hülya!“ rief er fröhlich und nahm mich in den Arm. Er
drückte mich fest an sich. Und er roch so gut nach Mann, am
liebsten hätte ich gerufen: „Lass uns hinauf gehen und einfach nur
kuscheln.“
„Naa, geht’s gut?“ fragte ich anstatt dessen im kumpelhaften Ton und
klopfte ihm auf die Schulter.
„Jetzt gut! Siehst gut aus. Und du hast dich geschminkt. Hm. Ganz
dezent, gefällt mir.“ Ich ließ mir meine Freude über
seine Äußerungen nicht anmerken.
Wir fuhren zu meinem Lieblings-Chinesen. Den Tisch, gleich neben dem
riesigen Aquarium hatte ich reservieren lassen. David sah mich lange
schweigend an. So als wollte er herausfinden, was ich in diesem Moment
dachte. Es machte mir nichts aus. Dieses Schweigen, dieser Ausdruck in
seinem Gesicht mit diesem besonderen Lächeln war schöner als
jedes Gespräch. Auch ich verweilte in seinem Gesicht, ließ
mich darin treiben, streichelte ihn mit meinen Augen. David spielte
gedankenverloren mit meinen Fingerspitzen. Seine Fingerspitzen waren
erstaunlich weich für die eines Gitarristen.
„Du bist so anders. So verdammt anders als die anderen Frauen“, begann
er und machte ein Gesicht dabei, wie ein Mathe-Professor kurz vor der
Lösung einer schwierigen Formel.
„So cool.“
„So cool?“ tat ich überrascht. „Ich bin nicht cool…Ich will mir
nur Zeit lassen. Das ist alles.“
„Zeit lassen? Gut!“ David legte meine Hand langsam
auf den Tisch zurück. Er strich dabei noch einmal über jeden
Finger einzeln, bevor er fragte. „Worüber wollen wir reden?“ Nun
war sein Blick nicht mehr so weich. Eher wie unter Kollegen in einem
anstrengenden Meeting. Ich war so sehr verliebt, dass ich Angst hatte,
meine Augen würden alles verraten. Also spielte ich mit der
Speisekarte. „Rede mit ihm, so wie
man mit einem Kumpel spricht, komm’
sei nicht so verstockt“ schalt ich mich selbst. Bald hatte ich
mich
wieder im Griff.
„Erzähl mir von deiner Arbeit!“ schlug ich vor und setzte mich
gerade hin. Ich wartete. David begann er zu erzählen.
Zwischendurch machte er eine Pause, so als wollte er prüfen, ob
ich ihm noch zuhörte. David war Arzt. Er arbeitete zurzeit in
einer Kinderarztpraxis - vertretungsweise - weil der praktizierende
Kollege kürzlich verstorben war. Ich selbst hatte viele Jahre bei
Kinderärzten gearbeitet, so hatten wir genug Gesprächsstoff
für die nächsten zwei Stunden.
„Ich finde, die Augen-und Hörtests, die bei der U8 und U9 von
Kinderärzten gemacht werden, katastrophal“, stellte ich fest. „Ich
meine, den Test führt dann irgendein Azubi durch. Die hat doch
noch gar keine Erfahrung. Spätestens in der Schule, wenn das Kind
am Unterricht nicht mehr richtig mitkommt, fliegt…“ Ich suchte nach dem
richtigen Beispiel. „…die Sehschwäche auf. Dann erst gehen die
Eltern mit dem Kind zu einem Facharzt um vernünftige Tests
durchführen zu lassen. Warum hast du eigentlich keine eigene
Praxis?“
„Ich will bei der Behandlung der Patienten nicht ständig an das
Geld denken müssen“, erklärte er. Das beeindruckte mich. Ich
verstand ihn nur allzu gut. Niedergelassene Ärzte waren eher
Geschäftsmänner denn Mediziner.
Die Zeit verging wie im Fluge und keiner von uns langweilte sich auch
nur eine Sekunde. Nach dem Essen fuhr ich David nach Hause, obwohl er
mit mir viel lieber „um die Häuser gezogen“ wäre,
schließlich war es Samstagabend.
Meine innere Stimme meldete sich
wieder: „Nein, lass es. Hör auf,
wenn es am schönsten ist. Es läuft dir nichts weg. Bleib
stark!“
„Ich möchte nach Hause“, sagte ich deshalb und blickte an ihm
vorbei. „Wir sehen uns doch schon in drei Tagen“, lachte ich etwas
hysterisch als ich sein skeptisches Gesicht sah.
„In drei Tagen? Schon in drei Tagen? Was bist du nur für eine
coole Person“, rief er ungläubig und biss bei dem Wort „cool“ auf
die Zähne und packte mich von hinten und drehte mich um seine
eigene Achse. Nun kitzelte er mich auch noch. Wir balgten herum wie
Teenager. Und das mitten in der Nacht. Bis irgendwann jemand das
Fenster öffnete und herunter schrie, wir sollten uns „schleichen,
sonst hole er die Polizei."
„Schlaf gut“, flüsterte ich noch nach Luft schnappend und gab ihm
einen flüchtigen Kuss auf den Mund. David zog mich an sich und sah
mich lange an. Dann begann er mich zu küssen. Mitten auf der
Straße. Allerdings hielt ich mich noch deutlich zurück. Mein
Kontrollmechanismus lief auf Hochtouren. Dann mussten wir beide laut
auflachen, als wir denselben Mann, der noch vor wenigen Minuten mit der
Polizei gedroht hatte, rufen hörten „Ja, liebt euch, los liebt
euch!“ Verrückte Welt. David nahm vorsichtig mein Gesicht in seine
Hände und küsste mich von neuem. Diesmal ließ ich es
zu. All meine Gefühle, die ich in meinem Innersten eingeschlossen
hatte, nicht herausließ, all die Zärtlichkeit, die ich
für ihn empfand, die Sehnsucht, die ich für ihn jetzt schon
spürte, obwohl wir noch keine echte Trennung erlebt hatten,
geschweige denn einen richtigen Anfang und all meine Scham, die in mir
hochkam, weil ich ihm etwas vormachte, ihn hinhielt - steckte ich in
diesen einen Kuss.
Ich glaube, David spürte das. Jeder konnte sehen, wie verliebt ich
war, wenn ich ihn ansah. Wir leben in einer Welt, in der Worte
zählen. Und meine Worte brachten uns beide wieder zurück auf
den Boden der Tatsachen.
„Gute Nacht David. Bis Mittwoch.“ Ich warf ihm eine Kusshand und stieg
in mein Auto. Im Rückspiegel konnte ich sehen, wie er noch
dastand. Wie ein begossener Pudel. Paralysiert. Verständnislos.
Hoffend, dass ich plötzlich umkehre und ihn in seine Wohnung
begleite und mit ihm schlafe würde. Ihn vögeln, die ganze
Nacht hindurch und den Tag danach. Immer und immer wieder. Meine
Zurückhaltung - nein - nennen wir es ruhig beim Namen - meine
berechnende, unehrliche Art - getarnt in dem schönen Wort „Zeit
lassen“ lösten bei David eine unbekannte Sehnsucht aus. Nicht nur
rein sexuell. Martina war die Frau die er zwei Jahrzehnte lang geliebt
hatte. Der Sex mit ihr war schön gewesen, aber an die
anfängliche Aufregung mit ihr konnte er sich schon lange nicht
mehr erinnern. Drei mal hatte er sie während dieser Zeit betrogen
- stets waren es „One-Night-Stands“ mit irgendwelchen Frauen gewesen,
um die er nicht sonderlich kämpfen musste. Sein Begehren stieg ins
Unermessliche. Für ihn war ich nicht greifbar, aalglatt und
unverbindlich. Und meine aufrechten Gefühle für ihn, die er
sehr wohl im Unbewussten wahrnahm, verwirrten ihn mehr, als dass sie
ihn beruhigten. Vor vier Monaten hatte Martina ihn verlassen. Noch vor
vier Monaten wollte er sich das Leben nehmen, weil er ohne sie verloren
war. Und nun kam ich daher und quälte ihn mit meiner Art. In
diesem Moment hasste er mich. Er hasste mich dafür, dass ich ihm
nicht sagte, was ich für ihn empfand. Er tat es auch nicht. Er
gehörte nicht zu den Männern, die vor einer Frau auf die Knie
fielen und sie anbettelten. David sperrte seine Wohnungstür auf
und fasste sich an den Schwanz der steinhart geworden war. Er
ließ sich bei völliger Dunkelheit auf sein Bett fallen und
befriedigte sich selbst. Für kurze Zeit entspannt fiel er in einen
traumlosen Schlaf.
Am nächsten Tag, es war Sonntag, rief er gegen Mittag an. Ob ich
schon gefrühstückt hätte und ob ich mit ihm spazieren
gehen wolle. „Und dann auf einen Kaffee ins ‚Suzis’?“ fragte er mich.
„Nein!“ antwortete ich kühl. Dann in einem wärmeren Ton: „Tut
mir leid, das geht nicht. Ich muss etwas für die Firma erledigen.
Eine Präsentation.“ Ich log. Ich wusste ganz genau, dass nach dem
gestrigen Abend ein paar Tage zur „Abkühlung“ nötig waren.
Ich wollte einfach nicht, dass es so schnell ging. Wenn ich ihm etwas
bedeutete, würde er das verstehen. David verstand es nicht.
„Du hast mich gestern geküsst, es war kein Kuss unter Freunden!“
Davids Stimme klang verletzt. Ich spürte einen nadelfeinen Stich
in der Herzgegend.
„Nein, nicht ich habe dich geküsst, sondern wir haben uns
geküsst. David ich mag dich. Aber Liebe ist es nicht!“ schmetterte
ich ihm ins Gesicht und hatte somit den „K.O.-Satz“ ausgesprochen. Eine
Ewigkeit war es still am anderen Ende der Leitung. Mein Herz setzte
aus. Was tat ich da? Ich erschrak vor mir selbst. Aber ich konnte nicht
mehr zurück. Einen Bruchteil einer Sekunde war ich mir nicht
sicher, ob sich hinter meinem Verhalten nicht Sadismus verbarg. Aber
empfinden sadistische Menschen nicht Lust dabei, wenn sie andere
quälten? Ich empfand keine Lust, wenn ich ihn zurückwies. Im
Gegenteil, ich fühlte mich danach jedes Mal schlecht. So konnte
ich nicht weitermachen. Um mich vor Liebes-Schmerzen zu schützen,
tat ich einem anderen Menschen weh.
Gewiss, diese Taktiken lösten eine gewisse Macht über den
Anderen aus. Aber wollte ich wirklich Macht über David haben? Ich
beschloss augenblicklich damit aufzuhören. Von nun an wollte ich
mich so zeigen wie ich war. David schien nichts davon zu merken. „Sehen
wir uns Morgen?“ fragte ich. Meine Stimme zitterte. „Okay“ murmelte
David und legte auf.
Am selben Abend kam David vorbei. Er sei in der Nähe gewesen und
er habe ständig an mich denken müssen. Mehr als ihn
wegschicken könne ich ja schließlich auch nicht.
„Komm rein. Setz dich bitte, wir wollten gerade essen!“ sagte ich
freundlich. David war sichtlich überrascht und wirkte sehr
erleichtert. Es ging ihm nicht gut. Nach dem Essen machten wir es uns
im Wohnzimmer gemütlich. Wir tranken Glühwein und hörten
‚Lucio Dalla’. Draußen schneite es. Meine Nymphensittiche Daisy
und Haase saßen am Fenster auf ihrem Spielplatz und verfolgten
die dicken Schneeflocken, die vom Himmel in tanzenden Bewegungen
herabfielen. Den Grad ihrer Wachsamkeit konnte man an ihrem Kamm
erkennen, ein Federschmuck auf ihren Köpfen, der bei völliger
Entspannung sich flach nach hinten legte. Nun flog ‚Daisy’ auf Davids
Schulter und spielte mit dem Reißverschluss an seinem
Sweatshirt-Kragen. ‚Haase’ setzte sich auf seine Brust und bearbeitete
seine Halskette.
„Ich hoffe, sie hinterlassen keinen Klecks.“
„Kein Problem ich habe morgen frei. Ist ja schließlich nicht mein
bester Anzug.“ Endlich lachten wir wieder. Die letzten Minuten waren so
bedrückend gewesen. David hielt einen auffallend großen
Abstand zu mir. Mein Verhalten vom Vortag hatte ihm den Rest gegeben.
Er hatte Angst, ich könnte ihn plötzlich nach Hause schicken
oder den Kontakt zu ihm ganz abbrechen. Außerdem wollte er den
Zauber dieser Minuten nicht durch eine arglose Handlung zerstören.
„Hättest du Lust morgen mit mir ins Kino zu gehen?“ fragte ich
ihn, als er aufstand und seinen Mantel holte. „Wir könnten vor dem
Kino eine Kleinigkeit essen.“
Er nickte knapp und sagte: „Okay.“ Seine Stimme klang rauh und wie von
weit her. „Du tust mir weh“, sagte sein Blick. Ich fühlte das
bekannte Würgegefühl in der Kehle, das eine Folge von zu
kräftigem Schlucken war. Ich umarmte ihn zum Abschied und
verharrte in dieser Stellung. David stand wie versteinert da.
Enttäuscht ließ ich von ihm ab.
„Also dann bis Morgen“, sagte David und schloss die Türe hinter
sich zu. Ich hörte ihn noch die Stufen hinunter laufen. Dann nahm
ich all meinen Mut zusammen und rannte ihm hinterher. Er stand gerade
vor den Kofferraum seines Autos und warf seinen Rucksack hinein, als
ich ihm weinend in die Arme fiel.
„Ich liebe dich“, sagte ich und drückte meinen Kopf an seine
Brust. „Ich liebe dich“, wiederholte ich. Ich zitterte. „Schscht...“,
sagte er leise und wischte mir die Tränen weg. Die Konturen der
Wirklichkeit verwischten sich. Wie auf einem anderen Planeten
hörte ich das Rauschen vorbeifahrender Autos. David presste mich
fester an sich und öffnete mit seinem Mund meine Lippen. Meine
Hand glitt zum ersten Mal unter seinen Pullover, in seine duftende
Wärme, meine Finger drangen in jenen rührenden Hohlraum, den
der Gürtel bei manchen Männern zwischen den Lendenmuskeln
freigibt. Lautlos begann es zu schneien, wir bemerkten es nicht.
Als David die Stufen zu seiner Wohnung hinauf stieg
fühlte er sich befreit. Er spürte, dass er nicht mehr um mich
kämpfen musste. Später als er im Bett lag, fühlte er
sich jedoch seltsam leer. Das anfängliche Glücksgefühl
wurde nun durch einen dumpfen Schmerz in der Herzgegend abgelöst.
Er dachte zum ersten Mal wieder an Martina. So sehr er sich auch
bemühte nicht an sie zu denken, immer und immer wieder sah er die
Bilder von ihr in sich aufsteigen. Martina neben sich im Bett liegend,
Martina in der Badewanne. Martina, als sie ihm gestand, dass sie ihn
nicht mehr liebe. Plötzlich überkam ihn ein Gefühl der
Panik. Er musste jemanden sprechen. Er musste sich beruhigen. Sein
Blick fiel auf die leere Weinflasche, die auf seinem Schreibtisch
stand. Aber David gehörte nicht zu den Männern, die ihren
Frust mit Alkohol betäubten. Seine Großmutter fiel ihm ein.
Was hatte sie damals gesagt, als er ein kleiner Junge war „Nimm diesen
Teddybären, mein Junge. Wann immer du traurig bist, er wird dir
helfen.“ Seit Jahrzehnten hatte er den Teddybären nicht mehr aus
der Schublade genommen. Wie sah das denn aus? Ein erwachsener Mann mit
einem Teddy im Bett. Schließlich war er ja nicht Mr. Bean. Genau
in diesem Moment verschwand seine Angst-Attacke. Er hatte innerlich
gelächelt. „Der größte Feind der Angst ist Humor“,
hatte ihm seine Großmutter gelehrt. „Vergiss das nicht! Verlerne
nie über dich Selbst zu lachen, ja?“ „Ja“ hatte er geantwortet,
siebenjährig ohne zu wissen, was sie meinte. David stand auf,
holte den Teddybären aus der Schublade heraus und drückte ihn
an sein Herz. Nach wenigen Minuten schlief er erschöpft ein.
Am nächsten Tag gingen David und ich wie verabredet ins Kino,
danach essen und schließlich landeten wir im Bett. In den Wochen
danach bemerkte ich nichts von Davids Ambivalenz. Er rief mich
täglich mehrmals an, wiederholte immer und immer wieder, dass er
mich liebe. Er war sehr zärtlich und aufmerksam und seine Libido
ließ vermuten, dass er mich wirklich begehrte – trotz alledem
schlich sich nach und nach eine gewisse Distanz zwischen uns ein.
Dann kam die Zeit als David immer häufiger Verabredungen absagte
und bei unseren Treffen zunehmend zerstreuter wirkte. Einige Male
hörte ich ihn im Schlaf Martinas Namen rufen. Klar, dafür
konnte er nichts. Ich war ihm ja auch nicht böse. Ich war nur
traurig. Zumal sich diese Dinge sehr subtil äußerten.
Vielleicht war ich ja doch nur eine Übergangsbeziehung um von
Martina loszukommen. Aber ihn darauf ansprechen wollte ich nicht. Noch
nicht. Mit einem Gefühl zwischen Angst und Hoffnung verfiel ich
zunehmend in eine regressive Haltung - ich fing wieder an zu taktieren
und entzog mich seiner Nähe. Langsam aber sicher begann ich mich
mehr und mehr in mein Schneckenhaus zurück zu ziehen. Gerade als
ich es mir dort gemütlich gemacht hatte, kam David mit einem
besonderen Geschenk. In der Nacht vor seiner Abreise nach Berlin
schenkte er mir ein „Überraschungs-Ei“. Ich musste lachen. „Hm,
wie nett. Spiel, Spaß und etwas zum Naschen“, rief ich
verzückt und biss ihm sanft in seine nackte Schulter. Dann
schliefen wir miteinander.
Am nächsten Morgen kochte ich mir Kaffee und ging mit meiner Tasse
zurück ins Bett. Mein Blick fiel auf das Überraschungs-Ei.
Gedankenverloren packte ich es aus. Oh mein Gott! David hatte das
Schoko-Ei vorsichtig in zwei Hälften getrennt und seinen
Wohnungsschlüssel hinein gesteckt. Dann hatte er das „Ü-Ei“
wieder zusammen gebastelt und in das Papier gewickelt. Als ich den
Schlüssel in meiner Hand hielt, stieg eine riesige Woge an
Zuversicht und Glauben an unsere Liebe in mir hoch. Eine Ewigkeit hielt
ich den Schlüssel in meiner Hand und weinte vor Glück. Nein,
diese Liebe würde halten!
Ich habe großen Hunger…
Das Popcorn, das ich im Kino mit Beate
gegessen hatte, war längst verdaut. Ein kleiner
Begrüßungs-Snack für David und mich wäre jetzt
nicht verkehrt. Mikail schlief bereits. Als ich in die Küche gehe,
fällt mein Blick zuerst auf die riesige Bahnhofsuhr, die mir Beate
letztes Jahr geschenkt hatte. Ah, sehr gut, ich hatte noch etwas Zeit.
In einer halben Stunde würde David da sein. In diesem Moment
klingelt das Telefon. David ist dran.
„Hallo Kleines...“, beginnt er.
„Wo bist du?“
„Hör zu, ich muss mit dir reden.“ Da war er, dieser Stich im
Herzen, diese Angst, die es unmöglich machte, einen
vernünftigen Gedanken zu fassen. Ich hasste diesen Satz. Er
bedeutete nichts Gutes. So fing man doch immer an, wenn man…
„Ich habe nachgedacht. Ich liebe dich Hülya, aber ich bin
über Martina noch nicht hinweg. Das ist genau das, was du immer
prophezeit hattest. Du weißt schon, diese Sache mit ‚Zeit lassen’
zwischen zwei Beziehungen…“
„Was redest du da?“ Ich kämpfe mit den Tränen.
„Du hattest Recht. Ich kann von dir nicht erwarten, dass du auf mich
wartest, aber tief in mir spüre ich, dass wir zusammen
gehören. Wir haben uns nur zu einem falschen Zeitpunkt getroffen.
Bitte verzeih mir, aber wir können uns vorerst nicht mehr sehen.“
Stille.
„Aber warum hast du mir dann vor deiner Abreise deinen
Wohnungsschlüssel geschenkt?“
„Ich habe ihn dir geschenkt, weil ich mir mit dir sicher war. Ich
weiß, das klingt jetzt so richtig arschlochmäßig aber
während einer Sitzung in Berlin begann ich fürchterlich an zu
schwitzen. Ich hatte Todesängste. Ich glaubte zu ersticken. Da
wusste ich es. Ich musste eine Weile alleine sein. Hülya, ich
erwarte nicht, dass du mich verstehst, aber glaub mir, ich weiß,
dass wir zu einander gehören. Bitte vertrau mir!“
Ich will so vieles sagen, dass ich ihn verstehen kann und dass ich auf
ihn warten werde. Auch ich spürte tief in mir, dass wir zusammen
gehörten. Ein ganz kleiner Teil in mir ist angstfrei - was war
schon dabei, wenn er einige Zeit allein sein wollte - aber der andere
Teil - zutiefst gekränkt und unsicher, wies ihn zurück. Laut
sage ich: „Das mit uns war ein Fehler!“ Mit zitternden Händen
umklammere ich den Hörer und presse ihn fest an mein Ohr. Ich kann
David atmen hören.
„Hülya“, flüstert er nach einer Ewigkeit. Seine Stimme klingt
blechern: „Bitte gib mir Zeit.“ Plötzlich habe ich
fürchterliche Kopfschmerzen.
„Lassen wir es einfach“, sage ich. Ich widerstehe dem Impuls das
Telefon an die Wand zu pfeffern und laut los zu schreien. Ich kann
nicht einmal weinen. Ich habe nicht die Kraft dazu. So wie ich
eigentlich keine Kraft dazu hatte, mich zu einer Beziehung
hinreißen zu lassen, die eigentlich von Anfang an zum Scheitern
verurteilt war. David bat mich um Zeit. Was wenn er nach einiger Zeit
feststellen würde, dass er doch nicht zu mir zurück wollte?
Mein Herz meldet sich: „Gib diesen
Mann nicht auf!“ Meine Vernunft
setzt sich jedoch durch. Auf sie konnte ich mich verlassen. Die
Vernunft bot mir Ordnung, Kontrolle und Sicherheit.
In meinem geistigen Auge sehe ich mein Leben vor mir, das vertraute
Leben einer Single-Frau. Was will ich eigentlich? In Wirklichkeit ist
das Leben an der Seite eines Mannes doch irrsinnig anstrengend: Nichts
ist so labil, wie die Liebe. Selbst Menschen, die von ihrer Ehe
behaupten, sie sei auf Granit gebaut, wissen im Geheimen, dass sie sich
selbst belügen. Ich jedenfalls habe genug von diesem ewigen
„Thrill“ - ich brauche ihn nicht mehr. Also entscheide ich mich
auszusteigen - das „Liebes-Karussell“ konnte sich auch ohne mich weiter
drehen. Gut so! Nun nimmt ein Gefühl von Überlegenheit und
Hochmut von mir Besitz. Mit fester Stimme sage ich - beinahe feierlich
„Ist schon okay David. Wir beide wissen doch, dass es für uns kein
Zurück mehr geben wird. Ich habe noch nie an so etwas wie
Bestimmung geglaubt. Aber wenn du eines Tages einen Freund brauchst,
ruf an.“ David antwortet nicht. Er legt auf.
Später liege ich im Bett und starre die Decke an. Tränen los
und vollkommen beherrscht. Früher hätte ich mich in so einer
Situation in den Schlaf geweint. Ich sehne mich nach der alten
Hülya, die sich einfach in das Leben stürzte. Jetzt nach
zahlreichen Narben und Schrammen in meinem Herzen war ich nur noch
darauf aus, es vor weiteren Verletzungen zu schützen. Abstinenz
als Mittel zur „Liebes-Entwöhnung“. Offensichtlich war ich nicht
in der Lage die Auseinandersetzung mit dem Du als die natürlichste
Sache von der Welt zu sehen. Ich sah die Liebe als Schlachtfeld, wo es
nur Gewinner und Verlierer gab? War dies der heimliche Grund meiner
Unfähigkeit zu…?
„Ach was“, meldet sich eine
altbekannte Stimme aus meinem Inneren. „Der
Idiot hat dich angemacht und dann eiskalt abserviert. Immerhin bist du
vor ihm nicht zusammengebrochen wie ein Schulmädchen. DU hattest
das letzte Wort in dieser Schluss-Szene. Du kannst stolz auf dich
sein!“
Thomas Mann soll einmal gesagt haben „Wer
mehr liebt ist verloren“.
Dieser Satz gefiel mir einmal - aber jetzt finde ich ihn blöd.
Wenn, dann müsste er heißen: „Wer weniger liebt ist
verloren.“
Plötzlich überkommt mich das Gefühl von Panik und die
Gewissheit einen großen Fehler begangen zu haben. Aber was
hinderte mich daran ihn anzurufen - ihm zu sagen, dass auch ich im
Innersten an diese Liebe glaubte? Warum ziehe ich es vor, die Rolle der
Verlassenen zu spielen? Die Antwort ist ebenso banal wie einfach: In
meinem Liebes-Leben war meist ich diejenige, die verlassen wurde. Diese
Rolle kannte ich. Sie war mir vertraut. Warum also was neues wagen?
Plötzlich werde ich aus meinen Gedanken gerissen, das Telefon
klingelt. Ich gehe nicht ran. Dann klingelt mein Handy. Es ist David -
ich sehe es im Display. „Sevgilim“ steht da. Dann gibt David auf. Es
ist spät - ich beschließe zu schlafen und schalte das Licht
aus.
Irgendwann wache ich auf…
Wenige Sekunden lang ist die Welt in
Ordnung, bis mir einfällt, was geschehen war. Dann endlich weine
ich. Geliebte, heilsame Tränen. Ich schluchze wie ein kleines
Kind. Mein Körper krümmt sich vor Schmerz, wie der eines
Junkies, der einen „Turkey“ hat. Ein gebührender Vergleich - wenn
man bedenkt, dass der plötzliche Entzug der Liebe (noch vor
wenigen Momenten Quell von Harmonie und Geborgenheit) einem
schmerzhaften Drogenentzug gleich kam. Irgendwann falle ich
erschöpft in einen traumlosen Schlaf.
Die nächsten Tage und Wochen verlaufen relativ
ruhig. Mein Trennungsschmerz hält sich in Grenzen und meine
Energie widme ich meinem Sohn und meiner Arbeit.
Selbstverständlich denke ich oft an David - schließlich ruft
er immer wieder an. Aber, da seine Bemühungen mich zu sprechen,
erfolglos bleiben, verstummt auch irgendwann das Telefon. Mit der Zeit
verblasst die Erinnerung an ihn: Erst vergesse ich den Ausdruck in
seinem Gesicht, dann, wie es sich anfühlte, wenn er mich
küsste und zuletzt weiß ich nicht mehr genau, warum ich
gerade diesen Mann so geliebt hatte? Was hatte ihn eigentlich so
einzigartig gemacht? Ich wusste es nicht mehr. Das war der Zeitpunkt an
dem David für mich gewöhnlich wurde.
Selbstverständlich gab es Momente, wo die Gefühle für
ihn noch einmal kurz aufblitzten, sich aufbäumten, als wollten sie
sich den Platz von Exklusivität in meinem Alltag wieder erobern.
Dies geschah meist in meinem Auto, in meiner heiß geliebten
Höhle, wenn irgendein Song aus dem Radio ungehindert und
unzensiert durch meine Ratio schnurstracks in mein Herz dringen konnte
- dann weinte ich. Hemmungslos und ungestört. Aber auch das ging
vorbei und irgendwann blieben meine Augen Tränen los und mein
Gemüt heiter.
ICH WAR WIEDER IM KÖNIGREICH DER SINGLES!
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