Warum
Deutschland?
Roman von
Hülya Hayat - Kapitel 2
JUDEN UND
TÜRKEN
In vier Monaten werde
ich zweiundvierzig. Eine Greisin für eine
Vierzehnjährige, jedoch eine Frau im besten Alter für eine
Achtzigjährige. Für mich heißt zweiundvierzig zu werden
vor allen Dingen freier zu sein. Freier als in den Jahren zuvor, als
Mikail klein war. Jetzt ist er fast dreizehn und geht schon verdammt
gut seine eigenen Wege. Sicher, er kuschelt immer noch gerne mit mir,
aber längst sind ihm seine Freunde (fast) wichtiger geworden als
seine Mutter. Was macht Frau in dieser Situation? Der Spross zeigt
Autonomie-Tendenzen - und - in drei Jahren, wenn er sechzehn Jahre alt
ist, wird er mit Testosteron so voll gepumpt sein, dass er bereits bei
dem Wort „Mitglied“ einen Steifen bekommen wird. Also, was mache ich?
Ich lerne wieder etwas mehr so zu sein wie in der Zeit bevor ich Mutter
wurde. Im Klartext, ich tausche Aldi-BH’s und Baumwollunterhöschen
gegen heiße Dessous aus und gehe auf die Pirsch. Nein, nicht nur
auf die Pirsch - die Stadt lockt da noch mit einem immensen Angebot an
Kultur. Also, rein ins Auto und mit der „IN“ auf dem Beifahrersitz
hinaus in die Welt der kinderlosen ewig-geilen Mitt-Dreißiger.
Kinder werde ich wohl keine mehr bekommen. Ich hatte meine Chance.
Natürlich sind wir Mutter und Sohn, aber bei meinem Vollzeitjob
und meinen Hobbys ist es unerlässlich ihn in bestimmte
Haushaltspflichten mit einzubinden. Ich möchte später, wenn
Mikail erwachsen ist, nicht sagen müssen, ich hätte auf
dieses und jenes verzichtet, nur um für ihn da zu sein. Mag sein,
dass das eine Art Aufrechnung mancher Mütter ist, wenn ihnen im
Streit mit den Kindern die Argumente ausgehen. Ich finde, das ist eine
Art von emotionaler Erpressung. Eine Argumentationsweise, die
bekanntlich ein Schuss in den Ofen ist, denn kluge Kinder lassen sich
nicht unter Druck setzen oder erpressen. „Hättest du doch dein
Leben gelebt, anstatt mir jetzt Vorwürfe zu machen. Außerdem
habe ich ja nicht entschieden, auf die Welt zu kommen! “, rufen sie
dann
empört. Recht haben sie! Kinder erinnern sich im Allgemeinen
daran, wie viel Spaß sie mit den Eltern und Geschwistern hatten,
als sie klein waren und nicht daran, ob die Fenster auch immer
schön sauber geputzt waren. Ich weiß, wovon ich rede,
Kindheit und Jugend mit einer putzsüchtigen Mutter - und einer nie
ganz sauber werdenden Wohnung, ließen mich bereits nach Auszug
aus dem elterlichen Haus schwören, mein Leben nicht nach einem
Putzplan auszurichten. So kam es, dass ich viel lieber irgendwelche
Dinge angefangen habe - im Hobby-Bereich versteht sich - wie etwa das
Theaterspielen, Nähen, Sprachen lernen, in Bands singen, junge
Musiker managen, an Life-Rollen-Spielen teilnehmen und vieles mehr. Und
vor allen Dingen habe ich all diese Dinge wieder beendet wann immer ich
wollte, ganz ohne Reue, einfach so. Das Leben war und ist verlockend
und schön. Was könnte ich nicht noch alles ausprobieren:
Segeln, Tauchen und Fliegen - ja das sind die Dinge, die bei mir ganz
oben stehen. Ich habe ja noch Zeit. Bis auf die Musik hatte ich nie den
Drang etwas bis zum Exzess auszureizen - ich weiß schon - ganz
schön ziellos, aber sehr lustvoll. Und was Mikail betrifft, mit
ihm reden, mit ihm Spaß haben - diese Dinge standen bei mir immer
ganz vorne. Ihn zu bekommen, war die wichtigste und schönste
Entscheidung meines Lebens. Es ist wunderschön das eigene Kind
wachsen zu sehen. „Süße Verantwortung“, sagen die
Türken dazu. Wobei es nicht unbedingt ein Kind sein muss, das man
wachsen sieht, glaube ich. Man kann diese Liebe und Fürsorge auch
bei Haustieren erfahren. Jetzt werden Sie vielleicht sagen - man kann
doch nicht Kinder und Haustiere in einem Atemzug nennen. Warum denn
nicht? Ich glaube, die Intensität der Gefühle für ein
Lebewesen lässt sich nicht messen. Es steht niemandem zu, zu
entscheiden wen oder was (Tierschützer mögen mir dieses „was“
verzeihen) man zu lieben hat. Hauptsache, man kann überhaupt
lieben. Ein Spaziergang an der Isar entlang mit einem interessanten
Mann und seinem Hund ist doch Glück pur.
Wie gesagt, bald bin
ich zweiundvierzig und Sie werden es nicht
glauben, aber ich werde gerne älter. Was für ein Ausspruch!
„Niemand wird gerne alt“, höre ich die Jugendfanatiker sagen. Oder
- „die macht sich doch was vor.“
In der Türkei, dem
Land, in dem ich geboren wurde, sagt man,
Frauen werden erst zu Frauen, wenn sie die Vierzig überschritten
haben und eine Frau bekäme erst dann ein Gesicht, wenn sie die
Dreißig überschritten hat. Vorher sei das Gesicht einer Frau
ein reines Naturprodukt. Meine Mutter hat nie Faltencremes benutzt und
ihre Haut sieht heute noch großartig aus. Allerdings hat sie sich
auch nie geschminkt oder ihre Haut stundenlang in der Sonne braten
lassen. Und Rauchen und Trinken sind für sie Fremdwörter.
Meine Großmutter war noch nie bei einem Arzt. Sie hatte gegen
jedes Leiden ein eigenes Kraut. Schade, dass ich in diesem Punkt von
ihr nichts gelernt habe. Ganz egal was du machst, das Alter holt dich
doch irgendwann ein, sagte sie, wozu also vor ihm weglaufen.
Obwohl es nach heutigen
„Gesichtspunkten“ längst bekannt ist, dass
Faltencremes eigentlich nichts bringen, außer vielleicht dem
subjektiven Gefühl, die Haut sähe frischer aus, geben Frauen
immer noch ein Vermögen für Produkte aus, die das reinste
Wunder versprechen: Faltenglättung, kleinere Poren, Verschwinden
der so verhassten Altersflecken und vieles mehr. Angeblich zeigten sich
bei regelmäßiger Pflege mit hochwertigen Produkten
mikroskopisch messbare Veränderungen, die allerdings für das
bloße Auge nicht sichtbar sind. Gehen wir mal davon aus, dass
eine Frau sich allen möglichen Schönheitskorrekturen
unterzieht - übrigens den Rekord hält eine Texanerin, die
sich bereits über vierzig mal unters Messer gelegt hat - wie lange
will sie das denn machen? Irgendwann holt sie das Alter doch ein. Es
ist ein Kampf gegen die Zeit und die Zeit wird gewinnen. Ist es da
nicht besser, in die innere Schönheit zu investieren? Jeder kennt
das, man sieht einen Menschen, der von innen heraus strahlt - besonders
deutlich sieht man es an den Augen - sie haben einen ganz besonderen
Glanz - den nur glückliche Menschen haben. Und diese
Schönheit ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit an innerem Wachstum.
Die Seelenpflege.
Meine Seele machte sich
in meinem Leben zum ersten Mal lautstark
bemerkbar, als ich mit knapp 25 Jahren meine „Mitte“ verlor.
Ängste plagten mich damals, wenn ich nachts alleine in meiner
Single-Wohnung aufwachte. Was nützte es mir jung und schön zu
sein, wenn die Seele so schmerzte? Und ich wusste nicht einmal warum?
Alles lief doch gut. Ich hatte einen tollen Job, viele nette Freunde
und meine Familie war gesund und munter. Warum plötzlich diese
Neurose? Mein Verdrängungsmechanismus funktionierte zum ersten Mal
nicht mehr. Damals wurde mir klar, dass es eine Frage der inneren
Einstellung ist, wie man sich fühlt. Es sollte nicht die einzige
Krise in meinem Leben bleiben. Jetzt viele Jahre später, gibt es
in meinem näheren Umfeld kaum jemanden, der nicht mindestens
einmal eine psychische Auffälligkeit gezeigt hat, wie etwa
Depressionen, Ängste, Zwangsneurosen und sogar Psychosen. Manche
von ihnen fanden den Weg in die Psychiatrie - andere wiederum
verzichteten auf die Schulmedizin und suchten Heilung durch alternative
Methoden. Auffällig war, dass die meisten meiner Freunde ihre
größte Krise nach dem Scheitern einer Beziehung
durchmachten, an der Kinder beteiligt waren. Meine zwei großen
Lebenskrisen habe ich hinter mir, was noch kommen wird, weiß ich
nicht, aber durch sie habe ich schließlich erfahren, was wirklich
wichtig ist. Fazit: Was bedeutet schon äußere
Schönheit, wenn es innen „zappenduster“ ist?
Meine Mutter und
Großmutter äußerten sich schon mal
über die zunehmenden körperlichen Beschwerden, die das Altern
zwangsläufig mit sich bringt. Meine Großmutter hatte stets
ein Glas mit Blutegeln in ihrem alten Lehmhaus. Bei Bedarf legte sie
eines der schwarzen Tierchen an ihre schmerzende Körperstelle.
Nach dem westlichen
Modediktat orientierte Türkinnen lassen sich
heute auch Fett absaugen, Falten wegspritzen oder die Nase korrigieren.
Das ist klar. Aber ist es wirklich die Suche nach ewiger Schönheit
oder ist es eher eine latente Angst vor dem Tod? Sicher ist, Frauen
wollten schon immer schön sein, ganz egal in welchem Jahrhundert
sie gelebt haben. Esther Vilar schrieb in den siebziger Jahren in ihrem
Bestseller „Der dressierte Mann“, dass Frauen sich insgeheim für
andere Frauen schön machten. Aus Konkurrenzgründen sozusagen.
Ist da womöglich etwas dran?
Ein hübsches
Mädchen lernt bereits im Kindergarten mit den
bewundernden Blicken der Jungs umzugehen. „Spieglein-Spieglein an der
Wand.“ Schaut man kleinen Mädchen und Buben beim Spielen zu,
können einem die Buben schon Leid tun. „Du musst jetzt sagen, dass
ich hübsch bin“, hört man das kleine Mädchen sagen. Der
Junge steht dann wie ein Trottel da und tut, was die Göre sagt.
Später, wenn die Mädchen dann erwachsen sind, schlagen sie
zwei verschiedene Wege ein: die einen vergeuden sich an ein Arschloch,
das sie ausnutzt und die anderen haben schnell gelernt, wie
schwanzgesteuert Männer sind und setzen alles daran, mit
entsprechender kosmetischer Unterstützung und psychologischer
Raffinesse Männer zu manipulieren. Eine gute Partie muss es sein -
eine Trophäe um bei Freundinnen und Kolleginnen angeben zu
können. Schaut her, was ich mir da geangelt habe! Bin ich
nicht toll? Ja toll! Warum wird dann jede dritte Ehe geschieden? Also,
Happy-End-Garantie bieten weder Schönheit noch die pfiffigsten
„Luder-Qualitäten“. Nur wenige junge Frauen sind selbstbewusst
genug und finden eine Balance zwischen der äußeren und
inneren Schönheit. Ausstrahlung ist keine Frage des Alters. Wie
sagt man: Eine Frau muss nicht klug sein. Schönheit genügt.
Ich glaube, Schönheit hat noch nie genügt. Die Frauen heute
wollen aber klug und schön sein. Kein Problem. In einer Zeit wo
jede dritte Deutsche sich schon mal an einem Casting beteiligt hat, ist
es meist nur eine Frage der Zeit und des Geldes, bis auch die letzte
Skeptikerin sich unters Messer legen wird. Möglicherweise wird in
Zukunft einer Frau mit Falten, grauen Haaren, Hängebrüsten,
Hakennase, abstehenden Ohren oder sonstigen Makeln, vorgeworfen, sie
habe sich gehen lassen. Wie immer werden die Männer dann
nachziehen. Es ist ja bekannt, dass Männer wegen ihres
Äußeren normalerweise nicht so kritisch sind. Aber stellen
Sie sich doch mal einen Mann mit Bierbauch auf einer „Ü-30-Party“
vor, ich glaube kaum, dass er dort wahre Chancen hat eine Frau kennen
zu lernen. Mein Sohn ist allerdings zeitweise genervt, wenn ich einen
Satz mit „je älter ich werde...“ anfange. Er findet, so zu
sprechen, sei wirklich „alt“.
Welche Vorteile hat das
Älterwerden? Nun, wenn ich heute auf eine
Party gehe, bin ich mir dessen bewusst, wer ich bin, ich muss mich
nicht mit den anderen Frauen messen. Mit zwanzig bin ich ausgeflippt,
wenn mein Lover einer anderen auf den Arsch geschaut hat, obwohl doch
mein Arsch so schön war. Heute ist mir das relativ schnuppe wie
jung oder hübsch eine Frau ist. Sollen die sich doch abplagen mit
dem „Konkurrenz-Gehabe.“ Es ist eine wunderbare Form der Gelassenheit
nicht vorne stehen zu müssen. Das heißt nicht, dass ich
nicht kämpfen kann oder will - die Frage ist nur wofür. Heute
habe ich das Gefühl, das Leben steht in seiner vollen Blüte
vor mir, wie ein Garten mit wundervollen reifen Früchten und ich
weiß nicht, wonach ich zuerst greifen soll! Mein Sohn träumt
davon, in seinem Zimmer einen eigenen Kühlschrank zu haben um noch
autonomer zu werden und wären da nicht die Mädchen,
würde er sich wahrscheinlich auch nicht mehr waschen. Haben Sie
schon einmal dreizehnjährige Jungs morgens im Bad erlebt?
Irgendwie sind sie paranoid, was die körperlichen Düfte
betrifft. Da werden literweise Deos und After Shaves verwendet nur um
ja nicht nach Schweiß zu stinken. Wahrscheinlich ahnen sie, dass
sie eine Frau nur ins Bett bekommen, wenn sie gut riechen. Und wenn sie
es dann geschafft haben, das Mädel ins Bett zu kriegen, lässt
das mit dem Waschen und den Deos nach. Noch ist mein Sohn nicht so
weit. Gott sei Dank. Mir wird ganz bange, wenn ich an diese Zeit denke.
Der arme Kerl. Muss er doch so aufpassen sich nicht mit HIV
anzustecken. Ich predige ihm jetzt schon „Safer Sex“ anzuwenden. Er
muss mich schon für verrückt halten, mein lieber Sohn. Wo
doch seine eigentliche Liebe noch seinen Freunden gilt, dem ewigen Bund
der Männer-Horde, einem geheimen Codex, den wir Frauen wohl nie
verstehen werden. Noch sind die Jungs glücklich, wenn ich ihnen
eine Packung Kekse und Limo mit in ihr Lager gebe, wo sie sich
neuerdings tagelang aufhalten. Dort können sie ja auch Dreck
machen und rülpsen und furzen, ohne dass ein Weibsbild sie
kontrolliert oder erzieht. Aber im Gegensatz zum Steinzeitalter
müssen die Jugendlichen sich um so ein Weib bemühen, also
wird mit Deo nachgeholfen, was das Zeug hält.
Nach einem sehr
hektischen Bürotag beschließe ich zur
Stadtbibliothek zu fahren. Will mir einen richtig schönen alten
„Schinken“ ausleihen, Tolstoi oder Dostojevski, ja etwas richtig
Schweres. Man sagt, wer Tolstoi oder Dostojevski gelesen hat, habe mehr
über die russische Seele erfahren, als durch eine Reise dorthin.
Ich kenne allerdings nur Männer, die Dostojevski oder Tolstoi
gelesen haben. Im Zeitalter der Schnelllebigkeit ist Literatur für
die breite Masse nur noch über spektakuläre
Seelen-Striptease-Orgien à la Dieter Bohlen oder Boris Becker
präsentierbar. War das früher Konsalik? Nein, Konsalik hat
viel mehr Niveau. Das Fernsehen, seine Heiligkeit, uns näher denn
je, bestimmt längst unseren Tagesablauf. Klar, keiner gibt zu „Big
Brother“ oder „Hilfe, ich bin ein Star, holt mich hier raus“ gesehen zu
haben, aber woher kommen denn nur die Einschaltquoten? Wir, ein Volk
von Fernsehsüchtigen benehmen uns wie das Hofvolk der Fürsten
im Mittelalter. Damals waren die Adeligen das, was die Prominenten
für uns heute sind. Wir „voten“ uns zu Tode. Überall werden
Telefonnummern eingeblendet, die uns eine scheinbare Beteiligung am
Geschehen vorgaukeln. „Bestimmen Sie, wer rausfliegen soll“,
heißt es da. Und wir rufen brav an und treiben die Gewinne der
Telefonanbieter in die Höhe. Das Sahnehäubchen an der
Fernsehunterhaltung ist wie immer „Sex“. „Sex sells.“ Überall
nackte Weiber, sorry, und Männer. Es ist schon sonderbar, dass
eine stillende Mutter in einem Cafe von vielen Menschen als peinlich
angesehen wird, während der Kollektiv-Exhibitionismus, egal welche
absonderlichen Züge er annehmen mag, in der Gesellschaft seine
Akzeptanz findet.
Die Bibliothek ist
genauso wie vor sechs Jahren, als ich zuletzt da
war. Einige Studenten und Pensionäre verlieren sich in den Hallen
- ich fühle mich nicht wohl - irgendwie wirkt alles so verstaubt
und farblos. Ich leihe mir nichts aus. Unten im Foyer suche ich nach
interessanten Events und lasse meinen Blick über die Plakate
gleiten. Ein Plakat mit einem jüdischen Sänger gewinnt meine
Aufmerksamkeit. Jubiläumskonzert mit Avraham Fried lese ich,
Dienstag 10.2.2004. Kurz entschlossen kaufe ich mir eine Karte für
das Konzert. Toll, ein jüdisches Konzert. Vergnügt fahre ich
nach Hause.
Mikail sitzt in der
Küche und liest Mangas. „Hallo, mein Engel,
na, wie war Dein Tag?“ „Gut“, sagt er ohne aufzublicken. „Daisy“, unser
Nymphensittich-Mädchen, sitzt auf seinem Kopf und zieht eine
Haarsträhne durch ihren Schnabel. „Hase“, ihr Verlobter, sitzt
auf seiner rechten Schulter und knabbert mit Hingabe an seinem
Ohrläppchen. Ich pfeife meinen Lieblingen zur Begrüßung
eine Melodie vor. Unbeeindruckt bearbeiten sie Mikail weiter. „Hast du
Hunger?“ frage ich meinen Sohn und setze Teewasser auf. „Nö, habe
mir ne Pizza gemacht. Du, Mama?“ Mikail plötzlich ganz lebendig.
„Ich brauche 10 Euro, wir machen morgen einen Ausflug.“
Endlich ist es
Dienstag. Meine Firma ist mitten in der Innenstadt,
einen Katzensprung vom Gasteig entfernt, darum beschließe ich das
Auto in der Firmengarage zu lassen und zu Fuß dorthin zu gehen.
Es ist herrlich, der Weg zum Gasteig führt über eine alte
Brücke. Ich bleibe ein wenig stehen und schaue auf das Wasser
hinunter, winzige Lichtreflexe hüpfen auf dem Wasser. Innerlich
hüpfe ich mit. Ein Abend mit mir - wie schön. Dann fällt
mir dieser Traum ein, ich gehe in einem Park spazieren, es ist
Frühling - die Zeit, wo man am liebsten morgens ganz früh
aufstehen würde um sich am morgendlichen Vogelgesang satt zu
hören oder das Gras unter den nackten Füßen zu
spüren - aber all diese Dinge nicht tut, weil man nicht aus den
Federn kommt.
Ich gehe spazieren, in
einem Park. Am Hang eines Hügels, am
Flussufer, sitzt eine Frau, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt,
und schaut auf das Wasser. Sie hat die Haltung einer Träumerin,
jedenfalls empfinde ich es so. Die Beine gespreizt, ihre Arme an den
Knien locker abgestützt, sie scheint mit etwas zu spielen. Das
Sonnenlicht wird in ihrem dunkelbraunen Haar reflektiert - in vielen
verschiedenen Rottönen. So wie es Frauen haben, die ihr Haar mit
Henna färben. Ich nähere mich ihr ganz langsam. Fühle
mich von ihr auf seltsame Weise angezogen. Vorsichtig setze ich mich
neben sie und empfinde dabei eine unendliche Ruhe in mir aufsteigen.
Ich halte meinen Atem an. Plötzlich blickt sie mich an und legt
sanft ihren Arm um meine Schulter und lächelt mich an - die Frau
bin ich.
Ich quetsche mich durch
eine Menschenmenge stark parfümierter
gutgelaunter Konzertgäste an der Abendkasse hindurch.
Wahrscheinlich sind es „Abo-Gäste“, denke ich verächtlich.
Die Besucher meines jüdischen Konzerts sind ganz anders. Nicht so
aufgedonnert. Die meisten Buben und Männer tragen diese typisch
jüdische Kopfbedeckung. Mir fällt auf, dass die meisten
Kinder ungewöhnlich ruhig und ausgeglichen wirken. Immerhin ist es
nach 20 Uhr und mitten in der Woche. Ich habe aber nicht den Eindruck,
dass sie zum Mitgehen gezwungen wurden. Eine sehr angenehme
Atmosphäre, in die ich mich gerne fallen lasse. Viele Buben im
Alter meines Sohnes, stelle ich fest. Toll, diese Kombination von tief
heruntergelassenen Jeans und der jüdischen Kopfbedeckung. In einer
der hintersten Reihen nehme ich Platz und strahle vor Vorfreude.
Endlich, nach
unzähligen Begrüßungsreden prominenter
Münchner Juden, läuft Avraham Fried mit seinen Musikern auf
die Bühne. Ein sehr schlanker drahtiger Mann mit Vollbart,
schwarze Hose, schwarze Weste, weißes Hemd. Die Lieder haben
einen fröhlich-melancholischen Touch. Die Texte sind meist
einsilbig und einfach, jedenfalls scheint es mir so. Am besten gefallen
mir die Balladen. In ihnen klingt der Wehklang eines jahrtausendlang
gedemütigten Volkes. In der Konzertpause kaufe ich mir eine CD von
Fried. Ich möchte später an diesen zauberhaften Abend
erinnert werden. Zufrieden streife ich durch die Pausenhalle bis ein
Gong das Pausenende verkündet und die Gäste zurück zu
ihren Plätzen ruft. Nach der Pause wird das Publikum richtig warm.
Viele stehen auf und tanzen. Mein Sitznachbar, ein Mann knapp
älter als ich, steht plötzlich auf und tanzt, dabei bewegt er
sich so heftig, dass er mit seinem Bein mehrmals mein Knie
berührt. Er wirkt so ausgelassen und glücklich, dass ich den
Eindruck gewinne, er habe die Welt um sich herum vergessen. Er hat
diesen gewissen Gesichtsausdruck, den ich so gut von meinen Landsleuten
kenne, es ist eine Mischung aus Freude, Sehnsucht und Melancholie. Ganz
gleich woher jemand stammt, süß klingen die Lieder aus der
Heimat in der Fremde. Ich stehe auch auf und tanze. Da ist es wieder,
mein altes Problem. Dazuzugehören. Hier fühle ich mich so,
als würde ich dazu gehören. Plötzlich wird mir ganz
bange. Ob die Menschen mir misstrauen würden, wenn sie
wüssten, dass ich Muslimin bin? Ich könnte ja eine Bombe bei
mir tragen. Es könnte allerdings auch ein verrückter Nazi
unter dem Publikum sein und plötzlich wild um sich schießen.
Mein Nachbar lächelt mir zu und sagt etwas auf Jiddisch, ich
verstehe ihn nicht. „Wie bitte?“ rufe ich, aber in diesem Moment wendet
er sich seinem Begleiter zu. Den Höhepunkt bilden tanzende Rabbis
unten in der Nähe der Bühne. Allesamt namhafte Herren, wie
ich später erfahren sollte, mit einer Schar von Kindern. Sie
bilden einen Kreis, indem sie sich an den Schultern fassen und
rhythmisch zur Musik hüpfen. Warum, frage ich mich, leben all
diese Menschen in dem Land der Mörder ihrer Eltern und
Großeltern?
Warum war mein Vater
damals nach Deutschland gekommen? Immerhin ist
nicht jeder Türke gleich dem „Ruf des Westens“ gefolgt. Ahnten
diese Männer und Frauen, dass der Preis des Geldes Einsamkeit und
Zerrissenheit war? Oder waren sie einfach nur zu feige, für die -
zugegeben - große Veränderung. Mein Vater konnte damals
nicht anders, er musste einfach weg. Es war wohl eine Mischung aus
Armut, Abenteuergeist und Flucht vor der Familie. „Der Himmel hat
überall die gleiche Farbe“, sagte mein Vater.
Nun, wie war das bei
uns, damals vor sechsunddreißig Jahren?
Zunächst migrierte
mein Vater, das war 1966. Ursprünglich
wollte er nur zwei Jahre in Deutschland bleiben - schnell viel Geld
verdienen um dann in der Türkei das Haus fertig bauen zu
können. Warum sonst hätte meine Mutter ihn alleine in die
Fremde ziehen lassen? Meine Eltern hatten kurz nach meiner Geburt ein
kleines Grundstück in der Nähe des Dorf-Hamams gekauft. Ein
kleines Häuschen wollten sie darauf bauen - in „Keciborlu“, das so
viel heißt wie „reich an Ziegen“ - hier deutet schon der Name auf
eine felsige Landschaft hin - denn Steine gab es dort im
Überfluss. Bis in die Nachtstunden hinein schlug mein Vater Steine
aus den Felsen um es als Baumaterial für sein Haus zu verwenden,
aber er brauchte auch Zement und andere Baustoffe. Es war schon
frustrierend für meine Eltern, obwohl sie sehr hart schufteten -
mein Vater arbeitete tagsüber im Schwefel-Bergwerk, abends als
Schuhputzer und in der restlichen freien Zeit an seinem Haus, mit
anzusehen, wie das Haus einfach so da stand, stumm und fast
vorwurfsvoll, als wollte es sagen „so macht doch etwas!“. Meine Mutter
ging Teppichknüpfen, versorgte die Kinder und half meinem Vater
beim Hausbau während meine Oma stets zugegen war, wenn
zusätzlich Hilfe gebraucht wurde. Da mein Vater in Keciborlu keine
männlichen Verwandten hatte, musste er alles alleine machen.
Irgendwann ging meinen Eltern das Geld aus. Das war sehr hart,
besonders für meinen Vater. Nichts wünschte er sich mehr als
dieses Haus. Er, der seit seiner frühesten Kindheit kein richtiges
Zuhause gehabt hatte - aber dazu später.
August 1966: Es war an
einem herrlich sonnigen Samstagvormittag. Mein
Vater ging mit uns zum Bazar. Ein Ereignis, das unsere ganze Familie in
höchste Glücksstimmung versetzte. Wir zogen unsere
schönsten Kleider an; sogar Schuhe durften wir an diesem Tag
tragen. Ich meine, echte Schuhe, nicht die Plastik-Sandalen wie sonst.
Wie jeden Samstag kauften wir Obst und Gemüse für die ganze
Woche ein. Es gab damals keine Konserven, geschweige denn
Tiefkühlkost. Das, was die Erde bot, wurde gegessen.
Der August, ein
äußerst fruchtbarer Monat, verwöhnte
uns mit einer besonders großen Vielfalt aus Früchten und
Gemüse. Ich spüre heute noch die kräftigen, rissigen
Hände meines Vaters, der mich durch den Bazar führte. Die
Frauen trugen Pumphosen aus Baumwolle und große karierte
Tücher in der Größe einer Tischdecke, die sie über
den Kopf warfen, wenn sie das Haus verließen - außer der
jungen Mädchen, die mussten ihre Haare nicht bedecken, aber sie
sollten peinlich genau darauf achten, dass ihre Kleidung anständig
aussah und nichts durchscheinen ließ, wenn sie an den
Straßencafes vorbeigingen. Dort saßen vorwiegend
verheiratete Männer, die den jungen Mädchen hinterher
blickten, mit gekonnt gespieltem Desinteresse, man konnte ja nie
wissen, wessen Tochter oder Schwester es war - und man wollte ja nicht
irgendjemandes Ehre verletzen. Aber ist es für die Männerwelt
nicht ohnehin eine „olympische Disziplin“ Frauen auf den Busen zu
schauen ohne dabei ertappt zu werden? Die Mädchen jedenfalls
verstanden es, nichts zu zeigen, aber doch soviel erahnen zu lassen,
dass das Interesse eines heiratswilligen Jünglings geweckt wurde.
Nichts war so schlimm wie ein junges Mädchen, das keine Beachtung
finden konnte. Wenn sie die Zwanzig überschritten hatte, ohne dass
Freier um ihre Hand angehalten hatten, wurde es brenzlig für sie.
Bereits mit dreiundzwanzig war man eine alte Jungfer - es sei denn, das
Mädchen konnte ein Studium nachweisen. Nun, wie stellten sie es an
- Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? So wie es alle Frauen auf der Welt
tun. Es muss ja nicht immer der Busen und Po herhalten um die dummen
Männerblicke auf sich zu ziehen. Ein geschmeidiger Gang zum
Beispiel - nicht nuttig - in einem Rhythmus, der wie ein guter Song im
richtigen Takt gespielt werden musste, nicht zu schnell, aber auch
nicht zu langsam. Es sollte nicht künstlich wirken, aber doch eine
gewisse Theatralik bieten. Stolz und weiblich sollte er sein, lockend
und abweisend zugleich. Die Hüften wurden dabei so bewegt, dass
man ahnen konnte, später keinen Besen im Bett neben sich liegen zu
haben, aber auch keine Sexbombe, die jedem und allen ihren Nektar zu
bieten schien. Anständig und sündig zugleich. Was für
Zwischentöne im menschlichen Balzverhalten! Und der
Blickkontakt? Niemals durfte ein junges Mädchen einem Mann zu
lange in die Augen schauen. Die Augen - Pforten der Seele, sie
würden alles verraten. Eine Frau sollte den Mann verzücken,
verzaubern und vor allen Dingen neugierig machen - auf das was sie von
anderen Frauen unterschied - ihre Persönlichkeit. Und diese durfte
auf keinen Fall auf einmal offen dargelegt werden wie auf einem
silbernen Tablett. Stück für Stück sollte er ihre
Vorzüge kennen lernen. "Sei wie eine Königin und du wirst wie
eine Königin behandelt", sagen die Spanier. Ein Mann durfte sich
nie zu sicher sein. Schließlich konnte jederzeit ein anderer
Freier um die Gunst der Auserwählten werben. Also musste er
schnell handeln. Sie pflücken, bevor es andere taten.
Außerdem gab es noch einen ganz banalen Grund für diese
Eile. Der menschliche Trieb. Eine Frau musste jungfräulich in die
Ehe gehen - damit sie später keinen Vergleich haben konnte. Das
war immerhin eine gewisse Garantie für Treue. Und was die jungen
Männer betraf, so sollten sie möglichst schnell heiraten und
Kinder zeugen, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen konnten -
außerdem hatten sie so regelmäßigen Sex. Na
bitteschön!
Der eigentliche
Heiratsmarkt war der Hamam, das türkische Bad.
Bitte nicht verwechseln mit dem Harem - da ich so viel von weiblichen
Reizen gesprochen habe. Dort konnte man sehen, wie der Körper
eines Mädchens war. Ihre Brüste, ihre Hüften, die
Beschaffenheit der Haut zeigen einer erfahrenen Frau, wie es um die
Gesundheit eines Mädchens steht. Stellte es sich heraus, dass es
unter Ausschlägen litt, unterstellte man ihr, später kranke
Kinder zu gebären. Ihr Körper sollte kräftig, ihre
Haltung stolz sein. Später musste sie einmal zupacken können
um nicht bei jedem „Unwetter des Lebens“ zusammenzubrechen. Wenn sie
obendrein von Anmut, Grazie und geistiger Schönheit gesegnet war -
durfte es nicht an Verehrern mangeln.
„Hamam“, eines der
schönsten Wörter, die ich kenne,
vielleicht auch deshalb, weil sich meine allerschönste
Kindheitserinnerung dahinter verbirgt. Unser Hamam war etwa hundert
Meter von unserem Haus entfernt. Es war ein uraltes Gebäude mit
dicken schweren Mauern und einer runden Kuppel. Es stand nicht nur da,
es schien mit dem Boden verwurzelt zu sein. Einmal wöchentlich,
meist freitags ging meine Mutter mit uns Kindern zum Hamam. „Zum
Reinigen des Körpers und der Seele“, sagte sie. Sie nahm Obst und
belegte Brote mit, Cay gab es dort umsonst. Man trat zunächst in
ein weites hohes Gewölbe ein, in dessen Mitte ein
wunderschöner alter Springbrunnen mit Figuren aus einem
Märchen von Tausend und einer Nacht plätscherte. Ringsherum
befanden sich kleine Kabinen, worin man nach dem Bad ungestört und
in duftige Handtücher gewickelt ruhen konnte. An der Kasse
saß eine uralte, immer freundlich lächelnde
Badewärterin mit dem blumigen Namen Lale, die den Badegästen
Hamam-Tücher und Pantilen auslieh. Bevor man die Haut reinigen
konnte, mussten sich erst einmal die Poren öffnen. Dazu ging man
in einen der fensterlosen Schwitzräume, wo es sehr heiß und
dampfig war, sodass man seinen Gesprächspartner kaum sehen konnte.
Vielleicht war das der Grund, warum nirgendwo sonst so intensiv
getratscht wurde wie im Hamam. Für Badegäste, die sich
für intimere Badeprozeduren, wie etwa das Entledigen von
lästigen Körperhaaren zurückziehen wollten, gab es
separate Kabinen. Musliminnen sollen am Körper unbehaart bleiben
und das bis ins hohe Alter. Körperbehaarung war den Männern
vorbehalten - es galt als höchst unweiblich, wenn zum Beispiel die
Achseln behaart waren. Der Körper einer Frau sollte glatt und
weich sein. Frauen verbrachten Stunden damit, ihren Körper
diesbezüglich in Form zu halten. Vom „Schwitzraum“ gelangte man in
eine riesige gewölbte Halle, deren marmorner Fußboden so
stark beheizt war, dass man ihn nur auf hölzernen Pantinen
betreten konnte. Unter der Mitte der Kuppel, deren sternförmige,
durch dickes Glas geschlossene Öffnungen, das Tageslicht
eindringen ließen, erhob sich ein fünf Schuh hohes Plateau
von Marmor und Jaspis reich verzierter „Bauchstein“, auf welches man
sich behaglich ausstrecken konnte. Ringsherum befanden sich Zellen mit
marmornem Waschbecken für die einzelnen Badegäste. Hier
sprudelte reichlich klares Wasser, ganz nach Belieben aus zwei
verzierten Hähnen, warmes und kaltes. Wir Kinder wurden derselben
Prozedur unterworfen wie die türkischen Pferde beim Striegeln.
Dabei zog sich meine Mutter einen Waschhandschuh aus Ziegenhaar
über und rubbelte uns den Dreck vom Körper. Heute würde
man sagen ein „Ganzkörper-Peeling“. Die alte Haut wurde dabei
heruntergerubbelt wie ein mit Bleistift beschriebenes Blatt von einem
Radiergummi. Natürlich schrieen wir Kinder dabei. Aber das
beeindruckte meine Mutter nicht sonderlich. Sie war ganz in ihrem
Element, beinahe exstatisch, hatte dem Dreck den Krieg erklärt und
so schrubbte sie, bis wir wie kleine rote Krebse aussahen. Dabei sah
meine Mutter aus wie eine Löwenmutter, die ihre Jungen putzte und
die Kleinen, die Reißaus nehmen wollten, kurzerhand mit der
Pranke zurückholte. Anschließend eilte sie mit einer
großen Schüssel wohlriechendem Seifenschaum herbei um uns
nun endgültig den Dreck weg zu waschen, „damit die Haut endlich
wieder atmen könne“. Wer fertig war, durfte auf das „Bauchbecken“
um sich dort von der Wasch-Prozedur zu erholen. Ich legte mich auf den
Rücken und blickte hinauf zur Kuppel um mir von den Sonnenstrahlen
die Nase kitzeln zu lassen. Jetzt erst hatte meine Mutter Zeit sich der
eigenen Körperpflege zu widmen. Sie bestrich zuerst ihr Haar mit
Henna, damit es später glänzend und kräftig in der Sonne
blitzen konnte, wenn mein Vater, der einzige Mann, der ihre Haare sehen
durfte, sich daran erfreuen konnte. Das Haar einer Frau ist die halbe
Schönheit, sagte meine Mutter und pflegte zeitlebens ihr Haar
besonders liebevoll. Dann ging sie zur Badewärterin, einer dicken
großen Mulattin, um sich der gleichen Prozedur hinzugeben, wie
zuvor ihre eigenen Kinder. Wir hielten uns den ganzen Tag im Hamam auf.
Wir aßen Obst und Zigara-börek, das ist Teig gefüllt
mit Schafskäse in Form von Zigarren, mundgerecht und klein - dazu
tranken wir süßen schwarzen Tee. Wir Kinder kicherten
verstohlen über die nackten Brüste besonders dicker Frauen.
Irgendwann schob meine Mutter uns in eine der Kabinen im
Eingangsbereich und legte uns auf eigens dafür bereitstehende
Betten, umwickelte liebevoll unsere kleinen Körper mit
Handtüchern und befahl uns zu schlafen. “Ruhe jetzt“, sagte sie
gespielt streng und gab mir einen Klaps auf den Po, wenn ich so tat,
als würde ich schlafen und kichernd mit den Wimpern zwinkerte. Die
Badeprozedur, das leckere Essen, das Plätschern des Springbrunnens
und der Gesang der Vögel, der aus den anliegenden Gärten
eindrang, wogen uns Kinder schnell in einen süßen Schlaf.
„Anne, lass uns zum
tanzenden Bären gehen!“ bettelte ich. „Na
dann“, sagte meine Mutter. Also gingen wir auf die Menschentraube zu,
die einen Kreis um den tanzenden Bären gebildet hatte, einem
verfilzten Grizzly, der mit einer dicken Kette um den Hals aus Angst
vor den Schlägen seines Herren blöd hin- und hertapste. Heute
weiß ich, dass so etwas Tierquälerei ist, aber damals als
Kind war es eine große Attraktion für mich. Ein Bekannter
meines Vaters, der nach Deutschland zum Arbeiten gegangen war, kam
lächelnd auf uns zu. Die Männer begrüßten sich
herzlich und der Fremde bot meinem Vater eine Filterzigarette aus
Deutschland an. Er holte ein goldenes Feuerzeug aus seiner deutschen
Jacke und zündete die Zigarette an. Dabei sagte er betont
lässig mit hochgezogenen Augenbrauen: „Du musst auch dorthin.“
Meine Mutter konnte sich nicht beherrschen, „und was ist mit uns, soll
ich mit drei kleinen Kindern hier alleine bleiben?“ zischte sie ihn an.
Er antwortete nicht. Männer unterhielten sich nicht mit Frauen,
wenn ihr Ehemann zugegen war. Meine Mutter war verwirrt - sie kannte
ihren Mann - er liebte Veränderungen. Dann sammelte sie sich
schnell wieder. Sie hatte sich in Männergespräche eingemischt
und dem fremden Mann zu lange in die Augen gesehen. Was sollte er von
ihr denken? Kommt daher nicht der Ausdruck, man habe einem Mann
„schöne Augen gemacht?" Natürlich machen wir Frauen
bestimmten Männern schöne Augen. Logisch! Aber sind es nicht
ausgerechnet die Männer, die lauthals behaupten, diese und jene
Frau würde mit ihnen ins Bett steigen, weil sie ihm „schöne
Augen“ gemacht habe, von denen wir Frauen keine Notiz nehmen?
Der Bazar roch nach
Zuckerwatte, Gewürzen und Eau de Cologne.
„Kolonya“, sagen die Türken dazu und reiben sich besonders an
heißen Sommertagen kräftig damit ein. Ich liebe Gerüche
- nicht nur gute - auch Tabakgeruch oder den Schweiß eines
geliebten Menschen. Mein Vater roch immer nach Tabak und etwas
Schweiß - schließlich schien er sich nie auszuruhen. „Komm
uns besuchen! Wann immer du willst!“ sagte mein Vater zu dem Fremden
und nahm mich wieder an der Hand. Wenn man knapp hundert Zentimeter
groß ist, sieht man natürlicherweise die Welt aus einer
anderen Perspektive. Besonders in einer Menschenmenge, wenn es eng
wird. Das Rascheln von Stoffen, die Stimmen der Händler, um die
Wette schreiend bis sich die Stimmen überschlugen. Die Waren
erhielten blumige Adjektive. Alles war süß, himmlisch,
frisch und deliziös. Dicke, leuchtendrote Tomaten, pralle
glänzende Auberginen, süße Trauben, saftige Melonen,
knackige grüne Bohnen, Zucchini und Paprika. Hinzu kamen
Eselsschreie, das Kreischen von Hühnern, die vor den Augen des
Käufers geköpft wurden und der ferne Ruf des Muezzins - alles
vermischte sich zu einem „Geräusche-Salat“ bis mein Vater mich
hochnahm und auf seine kräftigen Schultern setzte. Das war lustig,
so konnte ich alles viel besser sehen. Bunte Luftballons und Bonbons,
Plastik-Kitsch, hin- und wieder ein exotischer Vogel verängstigt
in einem Käfig sitzend und dazu Gerüche von exotischen
Gewürzen, die einem beim Vorbeigehen ganz schwindelig machten.
Meine Mutter feilschte mit einer Bäuerin beim Kauf von Tomaten.
Ihr Korb füllte sich mit Gurken, Trauben, Granatäpfeln,
Zuckerrüben, Oliven, Schafskäse, grünen Bohnen und
frischen Eiern. Eier gab es bei uns sehr selten, da wir keine eigenen
Hühner hatten. Das Gemüse wurde nicht nur frisch verzehrt,
man sorgte auch für den Winter vor: selbst gemachtes Tomatenmark,
Marmelade, eingelegte Gurken und Paprika und Zwiebeln. Man trocknete
Bohnen, Paprika, Auberginen und Barbunya indem man alles wie eine Kette
auf Fäden zog und an die Küchen-Wände hängte, so
wie Girlanden. Im August gab es auch „Bulgur-Feste“, dabei wurde frisch
geerntete Gerste bis in die Nachtstunden in riesigen Töpfen
aufgekocht, gesalzen und an die Dorfbewohner verteilt - es schmeckte
vorzüglich. Bulgur wurde auf sonnigen Dachterrassen auf
Tüchern ausgelegt und getrocknet. So eine Art „Cous-Cous“ - nur
mit größeren Körnern. Ein Armen-Essen sozusagen. Heute
muss ich schon grinsen, wenn diese Dinge hier als Delikatesse verkauft
werden. Apropos Delikatesse: Meine
Mutter hatte in unseren Anfangsjahren hier in
Deutschland vergeblich nach Auberginen und Zucchini gesucht, das war
1968. Wer kannte damals schon Auberginen? Schließlich fand sie
bei „Käfer“, einem Delikatessen-Geschäft in München, das
so leidenschaftlich begehrte Gemüse - für einen Preis, der
meinem Vater das Blut in die Schläfen trieb. Aber er verstand sie,
alles aus der Heimat war willkommen, egal zu welchem Preis. Sehnsucht
nach Heimat kann auch über den Gaumen gestillt werden.
Ali Abi, der
Eisverkäufer machte an diesem Tag besonders
schöne Kunststücke mit seinem Eisspachtel - „extra für
dich, dem schönsten Mädchen weit und breit!“ rief er
charmant. Eines Tages sollte ich seinen Sohn heiraten. „Gibst du sie
mir zur Schwiegertochter?“, fragte er meinen Vater und machte dabei
einen theatralisch verzweifelt bettelnden Gesichtsausdruck. „Nasip“,
antwortete mein Vater. Das bedeutete soviel wie „so Gott will“. Damit
wurde die Entscheidung an Gott übergeben. Sehr schön! Ali Abi
zog das Eis wie Kaugummi in die Länge um es dann kunstvoll wieder
auf die Eiswaffel zu befördern. Ich klatschte begeistert in die
Hände. Den Sohn des Eisverkäufers habe ich nicht geheiratet -
obwohl ich damals dreijährig keine bessere Wahl hätte treffen
können, ein Leben lang Eis, kann man sich ein schöneres Leben
vorstellen? „Probiert mein Eis - liebe Leute und ihr werdet das
Paradies schmecken!“ rief Ali Abi und wandte sich wieder an die Menge.
Mein Vater blickte meine Mutter fragend an. Konnten sie sich Eis
für die ganze Familie leisten? Eigentlich nicht. Ali Abi wäre
ein schlechter Händler gewesen, wenn er nicht Menschenkenntnis
besäße. Augenzwinkernd bot er seinen zukünftigen
Verwandten einen besonders günstigen Familienpreis an. „Na, willst
du?“ fragte Ali Abi lächelnd. Mein Vater wollte und übersah
den vorwurfsvollen Blick meiner Mutter.
Dieser Tag sollte sich
schicksalhaft auf unser Familienleben auswirken.
Auf dem Nachhauseweg sahen wir eine Gruppe junger Männer vor einem
Plakat im Schaufenster des Friseurs stehen. Aus dem Stimmengewirr hob
sich das Wort „Almanya“ deutlich heraus. Was heißt „Almanya?"
fragte ich meinen Vater. „Deutschland“, sagte er geistesabwesend - er
hatte Feuer gefangen - „ein Land, ganz weit weg von hier“. „Gibt es
dort auch Eis?“ „Aber ja meine Kleine - ganz viel Eis und viel
Schokolade, vielleicht geht der Papa dort mal hin.“ Ich war zufrieden.
Ein Ort, wo es Eis und Schokolade gab, musste toll sein.
Zwei Jahre lang lebte
mein Vater von uns getrennt in München. Ich
vermisste ihn sehr. Für Kinder spielt es keine Rolle, warum sich
die Eltern trennen, ganz egal ob sie sich wegen einer Scheidung oder
wie in unserem Fall, wegen eines besseren Jobs trennten, ich hatte
meinen Vater verloren. Dass er bald wieder da wäre, tröstete
mich nicht. Die bunten Spielsachen, die er uns schickte, konnten es
ebenso wenig tun, ich wollte meinen Buba wieder. „Kinder vergessen
schnell. Mach dir keine Sorgen“, sagte meine Oma und strich meiner
Mutter über das Haar. „...vergessen schnell“, wiederholte sie
leise.
Aber wie fühlte
sich mein Vater in „Almanya“, in dem Land wo es
Eis und Schokolade gab? Was ging in seinem Kopf vor, als er sich in das
neue, so ganz und gar fremde Leben stürzte? Alles war so
groß, so laut und anders. Überall steckten Schilder mit
Verboten die er nicht verstand. Alles hatte seinen Platz. Und die
Menschen, warum waren sie so ernsthaft? Das heißt, wenn sie
Alkohol tranken, lachten sie viel, aber es war ein künstliches
Lachen. Und warum teilte man hier sein Essen nicht? Viele Fragen, die
meinem Vater bis heute unbeantwortet geblieben sind. Das mit dem
Geldsparen funktionierte nicht ganz so, wie er es sich zu Hause
ausgemalt hatte. „Die Rechnung, die du zu Hause machst, stimmt nicht
mit der Rechnung im Bazar überein“, sagt ein altes türkisches
Sprichwort. Wie wahr! Neben dem Geld, das er nach Hause schickte,
brauchte er ja auch für sich etwas zum Leben. Er war jung, erst 25
Jahre alt, Frau und Kinder waren weit weg. Und es gab niemanden, der
ihm in sein Leben hinein redete - eine Gewohnheit, die in der
Türkei gang und gebe ist. Die Verwandten nehmen sich das Recht,
selbst älteren Familienangehörigen tüchtig ins Horn zu
blasen, sofern sie sich vom rechten Weg entfernten. Man war sozusagen
nie erwachsen, nie ganz frei. „Cok ayip“, sagt man. Was so viel
heißt wie „so etwas tut man nicht - schäm dich!“ Selbst bei
mir lösen diese beiden Worte heute noch etwas Unwohlsein aus. Aber
wie alles im Leben hat auch diese Eigenart eine positive Seite. Ein
junger Ehemann zum Beispiel, der sich in den Anfängen von
Spielsucht, Ehebruch oder Trinksucht befindet, wird von den anderen
Männern und älteren Frauen (eine türkische Frau bekommt
Mitspracherecht, wenn sie älter wird, dazu später mehr...)
getadelt. Viele „Sünder“ können so ins anständige
Familienleben zurückgeholt werden. Ich möchte an dieser
Stelle betonen, dass es sich bei meinen Ausführungen
ausschließlich um Beobachtungen des Zusammenlebens in der
ländlichen türkischen Bevölkerung handelt.
Selbstverständlich ist das Leben in den Großstädten
freier und unkonventioneller als auf dem Land. Gewiss, nie ganz so frei
wie in den westlichen Großstädten, aber für Menschen
mit Neigung zur Individualität zweifelsfrei die bessere Wahl.
Wo waren wir stehen
geblieben? Ach ja, mein Vater, 25-jährig, fern
von den kontrollierenden Augen der türkischen Gesellschaft - lebte
plötzlich in völliger Freiheit. Dazu kamen - all die jungen
hübschen Frauen mit ihren Mini-Röcken und der
freizügigen Lebensweise. Es war die Zeit der Beatles, Hippies, der
sexuellen Revolution. Was mag er wohl damals wirklich gefühlt und
gedacht haben? Was ist dir an den Deutschen zuerst aufgefallen, fragte
ich ihn einmal? Er antwortete ohne nachzudenken, so als hätte er
auf diese Frage schon lange gewartet, „die mangelnde Gastfreundschaft,
die Gleichgültigkeit den Mitmenschen gegenüber und die vielen
Verbotsschilder“. Er hatte damals auch eine deutsche Freundin, blond,
süß und gebildet, eine Studentin. Sie schlief mit ihm, ohne
von ihm zu erwarten, dass er sie heiratete. Ein Männer-Paradies.
Mein Vater leugnete seine Beziehung zu ihr nicht. Er zeigte uns sogar
Fotos seiner deutschen „Bekannten“, als er uns besuchen kam. Ich
glaube, das hat meine Mutter sehr verletzt. Viele seiner Freunde waren
neidisch auf ihn. „Es ist nicht so, wie ihr euch das denkt“,
erklärte er, „das Ganze hat auch eine andere Seite. Einsamkeit und
Ausgrenzung - das ist der Preis für den besseren Lebensstandard.“
Aber das wollte ihm niemand so richtig glauben.
Mein Vater beschloss
uns zu sich zu holen und reichte die
erforderlichen Anträge auf Familien-Nachzug ein. Damals war das
kein Problem. Jeder Gastarbeiter war willkommen. Anfangs arbeitete er
im Krankenhaus Harlaching, ich weiß nicht genau, welcher
Tätigkeit er da nachging, vermutlich war er Krankenpfleger-Helfer.
Schließlich hatte er ja keine Ausbildung, geschweige denn gute
Deutschkenntnisse. Aber er trug einen weißen Kittel. Daran
erinnere ich mich heute noch - mein „Buba“ in einem weißen Kittel
vor einem modernen hohen Haus. Stolz erzählte ich allen Kindern,
dass mein Vater nach Deutschland gegangen war um Arzt zu werden.
Außerdem behauptete ich, fünfjährig, ich könne
bereits deutsch sprechen und gab ihnen eine Kostprobe. Sie waren sehr
beeindruckt, zumal ich mein Publikum mit echt deutschen Bonbons
bestochen hatte, die mein Vater bei seinem letzten Besuch da gelassen
hatte.
Eine der wenigen
Erinnerungen, die ich mit der Türkei verbinde,
ist der Tag, an dem mein Vater zurück kam um uns zu holen. Als er
ging, war ich drei Jahre alt gewesen und wie die meisten kleinen
Mädchen hatte ich meinen Vater sehr geliebt. Ein kleines Kind kann
nicht wirklich begreifen, was es bedeutet, dass der Papa bald wieder
kommt. Es hat kein Zeitgefühl, schon gar nicht, wenn es
heißt „der Papa kommt in drei, sechs oder zwölf Monaten
wieder.“ Er war weg. Für mich damals war es „für immer“.
Am Tag seiner Ankunft
flüsterte meine Mutter mir die Neuigkeit ins
Ohr während sie morgens meine Haare kämmte, „heute Abend,
wenn es dunkel ist, kommt dein Buba uns besuchen.“ Ich war
überglücklich, immer wieder schaute ich in den Himmel und
hoffte, dass es bald dunkel würde. Als es endlich dämmerte,
lief ich zum Bahnhof. Der Zug war soeben eingefahren. In etwa zehn
Metern Entfernung sah ich einen fremden Mann, der zu mir herüber
sah. Er trug einen schönen Anzug mit einer schmalen dunklen
Krawatte, wie es damals Mode war und in jeder Hand einen Koffer. Der
Mann stellte seine Koffer ab und ging in die Knie: „Hülya, mein
Schäfchen, bist du es?“ Ich stand wie versteinert da,
plötzlich fürchtete ich mich vor diesem großen fremden
Mann. Er nahm mich hoch und drückte mich an sich, dass es fast
wehtat. Er roch so gut und so fremd. Ist es nicht so, dass man, ganz
gleich wie alt man ist, den Geruch seiner Eltern nie vergisst. Ich
weiß heute noch, wie seine unrasierte Wange piekte. Ein
Dreitagesbart, solange dauerte die Reise mit dem „Orient-Express“.
Immer wieder küsste er mich und weinte. „Mein Engel, sagte er,
komm lass uns nach Hause gehen.“ Von weitem sah ich meine Mutter,
meinen Bruder Memduh und meine große Schwester Hanife. Sie liefen
uns entgegen. Zwischen meinen Eltern herrschte zu Anfang eine seltsame
Atmosphäre. Immerhin hatten sie sich ein Jahr nicht gesehen. Es
war 1968, damals gab es in Privathaushalten keine Telefone. Man schrieb
sich lediglich Briefe.
1953 wurde mein Vater
während seines Militärdienstes nach
Keciborlu versetzt, meinem Geburtsort, einem kleinen Städtchen in
der Nähe von Antalya. Als seine Pflichtjahre vorbei waren,
entschied er sich dort zu bleiben und eine Familie zu gründen.
Zurück in sein Dorf nach Anatolien wollte er nicht mehr. Keiner
wusste genau warum, er sprach nie über seine Vergangenheit.
Irgendwann auf dem Weg zum Dienst, er arbeitete bei der Gendarmerie -
sein Spitzname ist bis heute „Jandarma Kemal“ - sah er meine Mutter und
verliebte sich in sie. Sie war siebzehn, etwas mollig mit pechschwarzen
langen Haaren, schrägen Augen wie die einer Japanerin und sehr
heller Haut. Die schrägen Augen hatte sie von meinem
Großvater, er war tatarischer Abstammung. Wie es damals Brauch
war, hielt mein Vater bei meinem Großvater Mehmet um die Hand
seiner jüngsten Tochter an. Normalerweise kommt die Familie des
Bräutigams um dies zu tun, aber da mein Vater ganz ohne
Verwandtschaft in Keciborlu lebte, tat er es selbst. Mein Opa war
anfangs gegen eine Heirat. Dieser junge Mann machte auf ihn einen
ziellosen und unsteten Eindruck, das gefiel ihm nicht. Wie war
überhaupt seine Familie - ein ehrenwerter Vater gab sein Kind
nicht einfach so einem Fremden, dessen Vorleben er nicht kannte.
Außerdem war meine Mutter sein jüngstes Kind, sein kleiner
Liebling. Und warum wollte der Bursche nach seinem Militärsdienst
nicht wieder in seine Heimat zurück? Eines Tages würde er
seine Tochter mitnehmen - in die Fremde. Hier ist nicht von Deutschland
die Rede, sondern von Anatolien, das war zwar nicht ganz so weit weg
wie Deutschland, aber trotzdem ein ganzes Stück von Keciborlu
entfernt. Mein Großvater wollte seine Enkelkinder bei sich
aufwachsen sehen. Ein verständlicher Gedanke aus der Sicht eines
alten Mannes. Meine Großmutter, eine sehr herrische und
selbstbewusste Frau war da ganz anderer Meinung. Sie hatte genug
Enkelkinder - immerhin waren ihre vier größeren Kinder
verheiratet. Meine Mutter war das „Nesthäkchen“. So sehr es meine
Großmutter schmerzte ihr letztes Kind herzugeben - glaubte sie
fest daran, dass dieser junge Mann der richtige für ihre kleine
Tochter war.
Meine Großmutter,
Fatima, hatte früh geheiratet: Ihre erste
Ehe war ein Reinfall. Ihr Mann trank und spielte - außerdem
ließ er sich oft wochenlang nicht blicken. Er entschuldigte sich
zwar jedes Mal und fiel vor ihr auf die Knie, aber das beeindruckte sie
nicht. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die an das Gute im Manne
glaubten. Obwohl sie mittlerweile ein kleines Kind bekommen hatte,
ließ sie sich von ihm scheiden und ging mit ihrer Tochter
zurück zu ihren Eltern. „Ich will kein Opfer sein“, sagte sie
stolz. Als eines Tages ein sehr wohlhabendes, kinderloses Ehepaar aus
Ankara in Keciborlu den Bürgermeister besuchen kam, erfuhren sie
von dem kleinen Mädchen, das vaterlos aufwuchs und meldeten
Interesse an einer Adoption an. Wenige Tage später verließ
das fremde Ehepaar mit der zweijährigen Tochter meiner
Großmutter das kleine Städtchen. Regelmäßig
schickten sie Briefe an meine Oma und dokumentierten mit Hilfe von
Fotos, wie gut es ihrer Tochter dort ging. Diese Briefe brachen meiner
Oma das Herz. Die Adoptiv-Eltern boten ihr auch wiederholt Geld an.
„Ich habe mein Kind nicht verkauft, ich will nur, dass sie eine bessere
Zukunft bekommt“, rief sie entsetzt. Als ich sie einmal darauf
ansprach, wurde sie sehr traurig. Nie hatte ich bei ihr diesen Ausdruck
gesehen, ich glaube, sie schämte sich zutiefst. „Ich hätte
sie nie weggeben dürfen, das war der größte Fehler
meines Lebens. Wir hätten es nicht leicht gehabt, aber hungern
mussten wir ja schließlich noch nie. Nun, ich war jung und naiv.
Ich dachte, ein Kind kann nur dann glücklich sein, wenn es Vater
und Mutter zugleich hätte. Aber wie viele Ehen sind denn wirklich
glücklich und ist es nicht manchmal besser für ein Kind, mit
der Mutter alleine aufzuwachsen als einen prügelnden Vater um sich
zu haben?“, sagte sie und ihre Augen funkelten vor Erregung.
„Außerdem“, fügte sie hinzu, „die Liebe zu einem Mann, was
ist das schon - Schall und Rauch - aber die Liebe zum eigenen Kind ist
unvergänglich.“ Zehn Jahre später habe ich abgetrieben, ich
glaubte, ein Kind solle unbedingt Eltern haben. Ich wollte nicht allein
erziehend sein. Später habe ich geheiratet und ein Wunschkind
bekommen, meinen Mikail - und was ist geschehen - ich wurde trotzdem
eine allein erziehende Mutter. Ich habe mein erstes Kind geopfert
für eine romantische Idee von einer perfekten Familie. Dies war
MEIN größter Fehler.
Der zweite Ehemann
meiner Großmutter, ein Kurde - zwei Kinder
kamen aus dieser Verbindung hervor - starb früh. Mein Opa war ihr
dritter und liebevollster Ehemann. Er behandelte seine Stiefkinder wie
seine eigenen. Als er meine Großmutter eines Tages nach Ankara
mitnahm, wo sie ihre Tochter, mittlerweile vierzehnjährig,
besuchen durfte, hatte er ihr Herz für alle Zeiten erobert. Meine
Mutter durfte in den Sommerferien ihre große reiche Schwester in
Ankara besuchen, was natürlich für einen Teenager ganz
großartig war. Mein Großvater war seiner Zeit weit voraus.
Aus heutiger Sicht war er ein Softie und Pazifist. Er war gegen jede
Form von Gewalt. Er schlug zur Verwunderung anderer Männer nicht
einmal seinen Esel. Er liebte es zu kochen und half seiner Frau beim
Wäschewaschen. Zu dieser Zeit gab es keine Waschmaschinen und
Wäsche mit der Hand zu waschen war sehr kraftaufreibend.
„Männer sind doch stark“, sagte er augenzwinkernd. Er nahm den
Spott anderer Männer nicht ernst. Mehmet Hayat war im Balkankrieg
gewesen, er hatte genug Unheil auf der Welt gesehen. Was kümmerte
ihn das Gerede anderer Leute. Seine Familie war ihm wichtig. Solange
sie ein Dach über dem Kopf hatten und genügend zu essen, war
er glücklich. Apropos Essen: Großvater hatte die
Angewohnheit, nie mehr als sieben Löffel von einer Mahlzeit zu
essen. „Das genügt“ sagte er und sah lieber seiner kleinen Tochter
beim Essen zu, die einen gesegneten Appetit hatte. Großmutter war
seine zweite Frau - nach dem Tod seines einzigen Sohnes ging seine Ehe
in die Brüche. Seine Frau wurde durch den Verlust ihres Sohnes
beinahe verrückt, so ging sie zurück zu ihren Eltern. Als er
viele Jahre später meine Großmutter kennen lernte, war sie
eine „gestandene Frau“ von fünfunddreißig Jahren, allein
erziehend und dem Leben trotzend. Besonders den Sohn meiner
Großmutter, Hasan, liebte er sehr. Er erinnerte ihn an seinen
verstorbenen Sohn Memduh, der an den Folgen einer Kinderkrankheit
gestorben war. Mein Großvater liebte die herbe, wortkarge Art
seiner neuen Frau. Sie war ihm eher wie ein Freund, denn wie eine
Geliebte. Ihre Kinder waren seine Kinder. Peinlich genau achtete er
darauf, dass im Beisein der Großen seine eigenen Kinder nicht
bevorzugt wurden. Als die großen Kinder aus dem Haus waren,
genoss er es jedoch sehr, meine Mutter, sein kleines Mädchen, zu
verwöhnen. Nicht mit materiellen Dingen, dazu waren sie zu arm.
Großvater gab ihr das, was man nicht kaufen kann. Liebe und Zeit.
Er setzte sie auf seinen Esel und ritt mit ihr davon. Sie lernte die
Natur kennen: Betörend duftende Rosenfelder, Olivenhaine,
Traubenhänge, seinen Lieblingsplatz am Fuße eines Baches und
den Blick auf das Tal, wo er als Kind seinem Vater bei der Heuernte
geholfen hatte. Er lehrte sie den Gesang verschiedener Vogelarten zu
unterscheiden und nahm ihr die Angst vor Schlangen, Spinnen und
Skorpionen und brachte ihr die wichtigsten Koranverse bei. „Wenn ich
dich anschaue, mein kleiner Liebling“, sagte er „weiß ich warum
ich lebe. Du bist das Schönste was ich je gesehen habe.“ Ich habe
meinen Großvater nie gesehen, aber all die Geschichten, die
über ihn erzählt werden, haben mir immer das Gefühl
gegeben jederzeit zurückblicken zu können. Zu ihm. Mit ihm
sprechen zu können, wenn es mir schlecht ging - Halt zu finden in
den Wurzeln meiner Herkunft.
„Was willst du?“ rief
meine Großmutter forsch, nachdem mein Vater
gegangen war. „Er hat keine Verwandtschaft hier, das ist für
unsere Tochter doch ideal - keine Schwiegermutter, keine
Schwägerinnen, die ihr das Leben schwer machen können. Sei
nicht so misstrauisch, er will nicht zurück in sein Heimatdorf. Er
liebt unsere Tochter.“ Das überzeugte ihn. Er wollte auf keinen
Fall, dass seine Tochter in der neuen Familie leiden musste. Es gab
genügend Schwiegermütter, die ihre Schwiegertöchter
schlugen und demütigten. Traditionsgemäß lebten junge
Ehepaare bei den Eltern des Bräutigams. Schließlich gab er
nach. Er fragte meine Mutter, ob ihr der junge Mann gefalle, sie gab
das zur Antwort, was man von einem anständigen jungen Mädchen
erwartete. „Baba, dein Wunsch ist mir Befehl.“ „Nein mein Kind, ich
möchte dich nicht an einen fremden Mann geben, den du nicht
liebst“, sagte er besorgt. „Liebst du ihn?“ fragte er noch einmal.
Meine Mutter nickte.
So heirateten meine
Eltern 1957 in Keciborlu. Nach neun Monaten kam
meine Schwester Hanife zur Welt. Ein quirliges kleines Mädchen,
das meine Mutter mehrmals am Tag umziehen musste, weil sie sich immer
wieder schmutzig machte. Vierzehn Monate später wurde mein Bruder
Memduh geboren, der Stammhalter. Ein bildhübscher Junge. Er hatte
ebenso grüne Augen wie mein Vater. Nach weiteren zwei Jahren kam
ich zur Welt.
Copyright
© 2005 Hülya Hayat - Alle Rechte vorbehalten -
Zurück
zu Kapitel 1 ...
http://www.literaturspektrum.de