Wittler
Ich treffe morgen mit Wittler zusammen. Wittler ist Assekuranzmakler,
unter dieser Berufsbezeichnung kann ich mir gar nichts vorstellen, er
betreibt wohl ein eigenes Geschäft, aber ich treffe Wittler nicht
aus geschäftlichen Gründen. Ich habe erfahren, dass Wittler
dabei ist, seinen Wohnsitz aufzugeben, seine ganze Existenz hier
aufzulösen und in eine andere Stadt umzuziehen. Wie viel Sinn
dabei ist, kann ich nicht sagen, Wittlers Geschäfte kenne ich
nicht, sie sind mir als einträglich beschrieben worden, aber das
ist eine unsichere Quelle. Wittler ist als Geschäftsmann
vielleicht seriös, vielleicht auch nicht, das hat mit meiner Sache
nichts zu tun, jedenfalls gibt er nun seine Wohnung, die gleich
gegenüber der meinen liegt, auf, und ist im Begriff, alle seine
Geschäfte hier abzuschließen.
Ich will Wittler um einen Gefallen angehen, um eine
Liebenswürdigkeit, zu der sich vielleicht ein Mann bereit findet,
der im Begriff ist, fortzugehen. Möglicherweise finde ich bei
Wittler Gehör, denke ich; jemand, der fortgeht, ist weich, ist
zwar äußerlich mit den amtlichen Geschäften seines
Fortgehens befasst, leidet aber doch in Wirklichkeit so sehr unter
diesem Fortgehen, dass er auf die Bitte eines fast Fremden vielleicht
eingehen wird. Es ist nicht viel, worum ich Wittler angehen will, es
ist fast nichts. Meine Tochter Johanna ist in diesen Tagen im Begriff,
in die Höhere Schule hinüberzuwechseln, in ein Pensionat, und
Wittler ist mit dem Leiter dieses Mädchenpensionates bekannt, weil
beide zusammen oder nebeneinander die Schulbank gedrückt haben,
und diese Freundschaft besteht fort bis heute. Wittler soll, so stelle
ich es mir vor, seinen Einfluss bei dem Rektor des Pensionates, einem
gewissen Wallmann, geltend machen, um meine Tochter so zu empfangen,
wie sie es verdient, um ihr im Vorfeld den Weg sozusagen zu ebnen, denn
das Pensionat ist für eine unnachsichtige Strenge berüchtigt.
Wer durch seine düsteren Gänge geht, trifft überall auf
eingeschüchterte Mädchen, auf Kinder, die eine
übergroße Strenge längst hat verstummen lassen. Diese
Strenge, so stelle ich es mir vor, soll Johanna nicht mit der vollen
Härte treffen, sie soll von ihr wenigstens zu einem Teil verschont
werden, denn Unnachsichtigkeit verträgt sie nicht. Natürlich
soll sie auch nicht verzärtelt werden, eine gewisse Erziehung hat
sie nötig, wie jedes Kind sie nötig hat, aber man darf sie
nicht hart anfassen.
Dies alles muss ich nun Wittler auseinandersetzen, einem Mann, der
angefüllt ist mit seinen eigenen Sorgen, Sorgen um seinen
Wohnungswechsel und um sein Geschäft. Was kann ich bei diesem Mann
voraussetzen, wenn es um das Wohlbefinden meines Kindes geht;
genaugenommen fast nichts, Wittler ist kinderlos, er kennt also nicht
die Sorgen meiner Vaterschaft. Ich spekuliere auf die Weichheit seines
Herzens, auf eine Empfänglichkeit für das Leid anderer, die
dieser Mensch trotz aller äußeren Umstände vielleicht
nicht einmal hat, aber was soll ich machen, Johanna soll schon in der
nächsten Woche in das Pensionat eintreten, und wenn Wittler sich
unverständig zeigt, dann ist sie dort ohne Schutz.
Copyright
© 2005 Jonas-Philipp Dallmann
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