Gefährdung und Möglichkeiten der Selbstfindung

Ausgeruht vom Wochenende, an dem ich viele Stunden an der frischen Luft verbrachte, kam mir die Situation der letzten Woche wieder zu Bewusstsein. Der Alltag des Berufslebens hatte mich nervös und zerfahren gemacht. Wer hat es nicht schon gleich oder ähnlich empfunden! Die vielen Dinge, die noch zu erledigen sind, die Schwierigkeiten und Hindernisse, die unsere momentane Tätigkeit begleiten, zehren an den Nerven.

Wir haben doch ein bestimmtes Bild von uns, sind im Allgemeinen von uns und unseren Fähigkeiten überzeugt. Es peinigt uns, wenn das Gelingen einer Arbeit in Frage gestellt ist, wenn ungewiss ist, ob wir eine von uns geforderte Leistung erbringen können, sei es wegen der Schwierigkeiten, die darin stecken, sei es, dass wir glauben, einen Termin nicht einhalten zu können. Die Ungewissheit veranlasst uns, alle Kräfte auf das Ziel zu konzentrieren und zugleich alles von uns fern zu halten, was unsere Zeit zusätzlich in Anspruch nehmen, uns noch weiter vom Ziel entfernen könnte. Dies nun ist allerdings eine sehr harte Probe für unseren Willen, denn hundert Dinge kommen während des Tages an uns heran. Wir können schon aus Gründen eines guten Betriebsklimas vielen kleinen Hilfeleistungen und Ratschlägen, die zu geben sind, dem Anhören von Beschwerden usw. nicht entgehen. Ganz zu schweigen von den Anordnungen oder Wünschen von Vorgesetzten.

Ist es da verwunderlich, wenn wir am Abend niedergeschlagen und missgestimmt nach Hause kommen, unfähig, uns die Sorgen oder auch die angenehmen Erlebnisse unserer Familie anzuhören? Dabei wissen wir doch, wie wichtig die Teilnahme, das Aufgeschlossensein für ein gutes Familienleben sind. So kommt zu den beruflichen Sorgen nicht selten ein schlechtes Gewissen hinzu, weil wir unserem Ehepartner, unseren Kindern zu wenig geben können.

Wir müssen zunächst einmal uns selbst wiederfinden. Da tut sich ein Spalt auf, es klafft ein Graben zwischen dem, was wir leisten sollen (und auch wollen) und was wir tatsächlich zu Stande bringen. Aus diesem realen Unvermögen entstehen oft die vielen kleinen und großen Fehlschläge und Unüberlegtheiten. Das Seelenleben ist durcheinander geraten, unkontrollierte Affekte nehmen überhand. Die oft zu Hilfe gerufenen Medikamente, die je nach Bedarf beruhigen oder stimulieren sollen, führen aus dieser Sackgasse nicht heraus.

Wir müssen versuchen, den Anforderungen gerecht zu werden, so gut wir können. Das heißt zunächst einmal, den Blick für die realen Gegebenheiten und die eigenen Möglichkeiten zu schärfen. Oft gehen wir von Idealvorstellungen aus, die sich nicht verwirklichen lassen. Wir wollen gleichzeitig mehrere Dinge erledigen, weil wir meinen, dadurch schneller voranzukommen. Was Not tut, ist die Fähigkeit, sich sammeln zu können. Aus der Sammlung wächst uns die Kraft zu, das Wesentliche zu erkennen, die Richtung unseres Handelns zu finden und die Probleme mit Ruhe und Stetigkeit zu bewältigen.

Deshalb wäre es hilfreich, wenn wir uns von manchen Zerstreuungen und Unternehmungen frei machen würden, die uns zur Gewohnheit geworden sind, uns aber keine Zeit lassen, über die uns bestürmenden Dinge in Ruhe nachzudenken. Vielleicht könnten wir irgendetwas aufgeben, das Kegeln, Kartenspielen unter Freunden und stattdessen einen Abend in der Woche ohne festes Programm einführen, an dem wir zur Ruhe kommen, einen Spaziergang machen und nur das tun, was der inneren Sammlung nützt.

Die Menschen in unserer Zeit brauchen dringend ein Gegengewicht zu den vielen Zerstreuungen, die von der Industrie erzeugt und überall im Handel angeboten werden. Damit soll nicht geleugnet werden, dass uns viele dieser Gegenstände und Freizeiteinrichtungen nützlich, lieb und wertvoll sein können. Es geht aber darum, das für uns zuträgliche Maß zu finden. Gelingt das nicht, geht das Wichtigste verloren, nämlich die Fähigkeit, alle Dinge richtig einzuordnen, ihnen einen Stellenwert zu geben. Der Mensch verlöre zuletzt die Chance der Selbstfindung und Selbstverwirklichung, und das sind doch gerade die Werte, die wir heute so groß auf unsere Fahne geschrieben haben.

September 1981

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