Angina
Erinnerungen von Waltraud Voigt
Elf Jahre war ich alt. Es war im Spätsommer 1951. Mutti lag im
Krankenhaus mit Lungentuberkulose. Oma war zu Weihnachten gestorben und
Vati war mit uns Kindern allein im Haus. Neben den Schulaufgaben hatte
ich für mein Alter schon viele Verpflichtungen in der Familie.
Jedoch fühlte ich mich selbst nicht in meiner Freizeit
eingeschränkt. Anders kannte ich es nicht.
Mich erhaschte eine Angina mit Fieber und Halsschmerzen. Nun musste ich
ins Bett. In Muttis Bett. Nachts schlief der Vater neben mir. Am Tage
durfte ich liegenbleiben und wurde verwöhnt. An einen Arzt kann
ich mich nicht erinnern. Die Krankheit zog sich in die Länge. Man
machte mir Halswickel, ich bekam heiße Milch mit Honig und
irgendetwas zum Lutschen. Nachdem ich das Schlimmste überstanden
hatte, die Krise ausgeschlafen hatte, begann ich mich im Bett recht
wohl zu fühlen. Niemand machte mir Druck, das Bett zu verlassen.
Ich hatte eine Methode entwickelt, mir ein Nest zu bauen: Das Deckbett
aus Federn kam an das Kopfende und wurde zur Hälfte
zusammengeklappt. So wurde es zur Muschel. Da hinein kroch ich und
deckte mir die Beine mit dem großen Federkopfkissen zu. So hatte
ich eine warme Höhle mit einem Tisch. Auf diesem Kopfkissentisch
stand zum Beispiel das Tablett mit dem Essen, das Glas mit dem
Getränk. Und vor allem: Ich konnte Bücher drauflegen und
lesen. Meine Geister waren wieder erwacht und ich schnüffelte in
der Bibliothek meiner Eltern. Da ich Barockschrift lesen konnte, suchte
ich mir Joseph von Eichendorff heraus. Aus dem Leben eines Taugenichts.
Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und
rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom
Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen, ich
saß auf der Thürschwelle und wischte mir den Schlaf aus den
Augen; mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der
Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle
rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir:
Du Taugenichts! Da sonnst Du Dich schon wieder und dehnst und reckst
Dir die Knochen müde und läßt mich alle Arbeit alleine
tun. Ich kann Dich hier nicht länger füttern. Der
Frühling ist vor der Thür, geh auch einmal hinaus in die Welt
und erwirb Dir selber Dein Brot ...
Und schon war ich an die Geschichte gefesselt. Der Vater schien mir zu
streng zu sein. Aber der Müllerssohn hatte seine Freude daran, in
Begleitung von Vogelgesang die Landstraße entlang zu wandern mit
leichtem Gepäck und seiner Geige.
Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
den schickt er in die weite Welt,
dem will er seine Wunder weisen
in Berg und Wald und Strom und Feld.
Ich fand die Lektüre wunderschön und konnte recht mit dem
jungen Müller mitfühlen, der das Leben lieber genießen
wollte, als langweilige Pflichten erfüllen. So las ich mich und
schlief ich mich im Wechsel gesund.
Mit dem Ergebnis, dass ich bis heute eine hoffnungslose Romantikerin
geblieben bin. ich las noch alle Novellen von Eichendorff: Das
Marmorbild, Das Schloß Dürande; von Adalbert Chamisso: Peter
Schlemihls wundersame Geschichten.
Romantik, die romanhafte Darstellung der Diskrepanz zwischen Endlichem
und Unendlichem, Wiedererweckung der Märchen, so steht es im
Brockhaus.
Brentano, von Arnim, Gebrüder Grimm, Wilhelm Hauff. Mir erschloss
sich eine Wunderwelt. Später verschlang ich Adalbert Stifter, den
großen österreichischen Dichter und Maler, der eher nicht
mehr Romantiker ist, sonderm dem poetischen Realismus zugeordnet wird.
Mein Vater unterstützte meine Neigung, indem er mir zwei
Bände "Klassiker für die Jugend" schenkte.
Ist das Ganze nun schlecht gewesen für mein Leben oder ein Gewinn?
Trotz aller Vernunft, Logik und Naturwissenschaft, die ich studiert
habe, tauchen meine Gedanken oft ab in eine romantische Welt von
Wunschträumen.
Keiner wusste bisher davon.
Es war mein Geheimnis!
Copyright ©
2005
Waltraud Voigt
Zurück...