Die
Zeitenwendeweste
Erinnerungen von Waltraud Voigt
Als Mädchen habe ich gern genäht. Es gab 1956 wirklich nicht
so schicke Sachen und das Geld fehlte in einem Haus mit 4 Kindern. Als
ich 16 war, kaufte ich blaugeblümten Schürzenstoff.
Modezeichnen und Schnittmuster zu fertigen hatte ich gelernt. Ich
nähte mir ein 2-teiliges Sommerkleid. Bluse und Rock – vorne zum
Knöpfen, der Rock hatte eine Stufe. Die Maßzeichnung habe
ich noch. Taillenweite 70 cm. Herrgott, muss ich schlank gewesen sein.
Es wurde ein hübsches Kleid und ich trug es bis zum Abitur und
länger.
Auch meine Tochter fing als 14-jährige zu nähen an: Jacken
aus Laken, Sommeranzüge aus kariertem Futterstoff. Die
Metallknöpfe wurden eingepresst mit einem Gerät oder einem
Hammer. Es machte Spaß, aber es ist vorbei. Sie näht nicht
mehr, ich nähe nicht mehr.
Es hatten sich viele Stoffreste in Kartons im Schlafzimmerregal
angesammelt. Da lag eine graue Hose aus elastischem Cordsamt -
von Exquisit! Sie passte nicht mehr, die Zeit hatte meine Figur
verändert. – Da lag ein brauner elastischer Rock. Er war
elektrisch! Aber angenehm zu tragen. Welche berufstätige
Autofahrerin zog noch einen Rock zur Arbeit an? Dann lagen noch
Futterstoffe in verschiedenen Farben herum.
Nun war 1988 meine Gemütsverfassung nicht die beste. Gesundheit
und Arbeit harmonierten nicht mehr miteinander. Berufswechsel zum
ärztlichen Gutachter. Das war eine trockene Papierarbeit.
Interessant, aber der direkte Kontakt zum Patienten fehlte mir!
Was tat ich nach Feierabend? Ich kramte in den Kartons,
beschäftigte mich mit den Stoffresten, nähte einen
Kissenbezug aus Cordresten; begann die etwas farblosen Stoffe der
Cordhose und des braunen Rockes für eine Weste zuzuschneiden. Ich
fühlte mich wie Aschenputtel: im Beruf abdelegiert, zwar zu guter
Arbeit, aber durch meine ärztliche Gewohnheit empfand ich es wie
eine aussätzige Tätigkeit. Ja! So eine blöde Weste
wollte ich in der Freizeit anziehen! Die ersten Bahnen waren
zusammengenäht. Mit der „Veritas“ aus Wittenberge. 16 Programme
Stickmuster und Knopflochprogramm. Eine gute Maschine. Tja – und dann
kam die Wende.
Seit 1966 war ich als Ärztin tätig. – Einmal habe ich mich
beworben! – „Wir wünschen Ihnen alles Gute im weiteren beruflichen
Leben!“ Also: niederlassen, Praxis aufmachen. Kredit aufnehmen. Sohn
krank. Tochter geht in den Westen. Schlechte Ehe. Die Aschenputtelweste
wandert 1991 in den Fellhocker. Klappe zu.
Meine klitzekleine Praxis brachte mir wieder schöne
Patientenkontakte, bekannte Gesichter, neue Gesichter, neue
Behandlungsmöglichkeiten. Neue leichte Materialien, neue
Labormethoden, ein EKG-Gerät! Neue Krankenkassen, neue Banken,
Steuerberater,
Pharmavertreter!
Eines Tages kaufte ich eine neue Nähmaschine, eine schwedische
Husqvarna, warum eigentlich? Ja, aber die Weste! Sie musste warten.
2001 ist sie mit mir umgezogen, in eine neue Wohnung. Alles braucht
seine Zeit. Vieles habe ich jetzt als Rentnerin getan, was ich mir
lange gewünscht hatte: Verreisen nach Hiddensee und nach Heviz in
Ungarn, mit dem Malen beginnen, einen neuen Partner finden, die Kinder
besuchen, Oma zu sein für die Enkelkinder. Die Weste musste auf
gute Nerven warten. Jetzt waren sie da. Die jüngste Zeit brachte
mir die Ausgeglichenheit, um die Weste zu vollenden.
So viele Erinnerungen stecken in der braunen, blauen und beigefarbenen
Weste mit 4 verschiedenen Knöpfen. Es ist eine Zeitenwendenweste.
Sie hält warm und führt in meine Vergangenheit zurück.
Meine Weste werde ich Zukunft beim Malen tragen, meinem neuen
erfreulichen Hobby.
Copyright ©
2004
Waltraud Voigt
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