Warum Deutschland?
Roman von Hülya Hayat - Kapitel 2


JUDEN UND TÜRKEN

In vier Monaten werde ich zweiundvierzig. Eine Greisin für eine Vierzehnjährige, jedoch eine Frau im besten Alter für eine Achtzigjährige. Für mich heißt zweiundvierzig zu werden vor allen Dingen freier zu sein. Freier als in den Jahren zuvor, als Mikail klein war. Jetzt ist er fast dreizehn und geht schon verdammt gut seine eigenen Wege. Sicher, er kuschelt immer noch gerne mit mir, aber längst sind ihm seine Freunde (fast) wichtiger geworden als seine Mutter. Was macht Frau in dieser Situation? Der Spross zeigt Autonomie-Tendenzen - und - in drei Jahren, wenn er sechzehn Jahre alt ist, wird er mit Testosteron so voll gepumpt sein, dass er bereits bei dem Wort „Mitglied“ einen Steifen bekommen wird. Also, was mache ich? Ich lerne wieder etwas mehr so zu sein wie in der Zeit bevor ich Mutter wurde. Im Klartext, ich tausche Aldi-BH’s und Baumwollunterhöschen gegen heiße Dessous aus und gehe auf die Pirsch. Nein, nicht nur auf die Pirsch - die Stadt lockt da noch mit einem immensen Angebot an Kultur. Also, rein ins Auto und mit der „IN“ auf dem Beifahrersitz hinaus in die Welt der kinderlosen ewig-geilen Mitt-Dreißiger. Kinder werde ich wohl keine mehr bekommen. Ich hatte meine Chance. Natürlich sind wir Mutter und Sohn, aber bei meinem Vollzeitjob und meinen Hobbys ist es unerlässlich ihn in bestimmte Haushaltspflichten mit einzubinden. Ich möchte später, wenn Mikail erwachsen ist, nicht sagen müssen, ich hätte auf dieses und jenes verzichtet, nur um für ihn da zu sein. Mag sein, dass das eine Art Aufrechnung mancher Mütter ist, wenn ihnen im Streit mit den Kindern die Argumente ausgehen. Ich finde, das ist eine Art von emotionaler Erpressung. Eine Argumentationsweise, die bekanntlich ein Schuss in den Ofen ist, denn kluge Kinder lassen sich nicht unter Druck setzen oder erpressen. „Hättest du doch dein Leben gelebt, anstatt mir jetzt Vorwürfe zu machen. Außerdem habe ich ja nicht entschieden, auf die Welt zu kommen! “, rufen sie dann empört. Recht haben sie! Kinder erinnern sich im Allgemeinen daran, wie viel Spaß sie mit den Eltern und Geschwistern hatten, als sie klein waren und nicht daran, ob die Fenster auch immer schön sauber geputzt waren. Ich weiß, wovon ich rede, Kindheit und Jugend mit einer putzsüchtigen Mutter - und einer nie ganz sauber werdenden Wohnung, ließen mich bereits nach Auszug aus dem elterlichen Haus schwören, mein Leben nicht nach einem Putzplan auszurichten. So kam es, dass ich viel lieber irgendwelche Dinge angefangen habe - im Hobby-Bereich versteht sich - wie etwa das Theaterspielen, Nähen, Sprachen lernen, in Bands singen, junge Musiker managen, an Life-Rollen-Spielen teilnehmen und vieles mehr. Und vor allen Dingen habe ich all diese Dinge wieder beendet wann immer ich wollte, ganz ohne Reue, einfach so. Das Leben war und ist verlockend und schön. Was könnte ich nicht noch alles ausprobieren: Segeln, Tauchen und Fliegen - ja das sind die Dinge, die bei mir ganz oben stehen. Ich habe ja noch Zeit. Bis auf die Musik hatte ich nie den Drang etwas bis zum Exzess auszureizen - ich weiß schon - ganz schön ziellos, aber sehr lustvoll. Und was Mikail betrifft, mit ihm reden, mit ihm Spaß haben - diese Dinge standen bei mir immer ganz vorne. Ihn zu bekommen, war die wichtigste und schönste Entscheidung meines Lebens. Es ist wunderschön das eigene Kind wachsen zu sehen. „Süße Verantwortung“, sagen die Türken dazu. Wobei es nicht unbedingt ein Kind sein muss, das man wachsen sieht, glaube ich. Man kann diese Liebe und Fürsorge auch bei Haustieren erfahren. Jetzt werden Sie vielleicht sagen - man kann doch nicht Kinder und Haustiere in einem Atemzug nennen. Warum denn nicht? Ich glaube, die Intensität der Gefühle für ein Lebewesen lässt sich nicht messen. Es steht niemandem zu, zu entscheiden wen oder was (Tierschützer mögen mir dieses „was“ verzeihen) man zu lieben hat. Hauptsache, man kann überhaupt lieben. Ein Spaziergang an der Isar entlang mit einem interessanten Mann und seinem Hund ist doch Glück pur.

Wie gesagt, bald bin ich zweiundvierzig und Sie werden es nicht glauben, aber ich werde gerne älter. Was für ein Ausspruch! „Niemand wird gerne alt“, höre ich die Jugendfanatiker sagen. Oder - „die macht sich doch was vor.“

In der Türkei, dem Land, in dem ich geboren wurde, sagt man, Frauen werden erst zu Frauen, wenn sie die Vierzig überschritten haben und eine Frau bekäme erst dann ein Gesicht, wenn sie die Dreißig überschritten hat. Vorher sei das Gesicht einer Frau ein reines Naturprodukt. Meine Mutter hat nie Faltencremes benutzt und ihre Haut sieht heute noch großartig aus. Allerdings hat sie sich auch nie geschminkt oder ihre Haut stundenlang in der Sonne braten lassen. Und Rauchen und Trinken sind für sie Fremdwörter. Meine Großmutter war noch nie bei einem Arzt. Sie hatte gegen jedes Leiden ein eigenes Kraut. Schade, dass ich in diesem Punkt von ihr nichts gelernt habe. Ganz egal was du machst, das Alter holt dich doch irgendwann ein, sagte sie, wozu also vor ihm weglaufen.

Obwohl es nach heutigen „Gesichtspunkten“ längst bekannt ist, dass Faltencremes eigentlich nichts bringen, außer vielleicht dem subjektiven Gefühl, die Haut sähe frischer aus, geben Frauen immer noch ein Vermögen für Produkte aus, die das reinste Wunder versprechen: Faltenglättung, kleinere Poren, Verschwinden der so verhassten Altersflecken und vieles mehr. Angeblich zeigten sich bei regelmäßiger Pflege mit hochwertigen Produkten mikroskopisch messbare Veränderungen, die allerdings für das bloße Auge nicht sichtbar sind. Gehen wir mal davon aus, dass eine Frau sich allen möglichen Schönheitskorrekturen unterzieht - übrigens den Rekord hält eine Texanerin, die sich bereits über vierzig mal unters Messer gelegt hat - wie lange will sie das denn machen? Irgendwann holt sie das Alter doch ein. Es ist ein Kampf gegen die Zeit und die Zeit wird gewinnen. Ist es da nicht besser, in die innere Schönheit zu investieren? Jeder kennt das, man sieht einen Menschen, der von innen heraus strahlt - besonders deutlich sieht man es an den Augen - sie haben einen ganz besonderen Glanz - den nur glückliche Menschen haben. Und diese Schönheit ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit an innerem Wachstum. Die Seelenpflege.

Meine Seele machte sich in meinem Leben zum ersten Mal lautstark bemerkbar, als ich mit knapp 25 Jahren meine „Mitte“ verlor. Ängste plagten mich damals, wenn ich nachts alleine in meiner Single-Wohnung aufwachte. Was nützte es mir jung und schön zu sein, wenn die Seele so schmerzte? Und ich wusste nicht einmal warum? Alles lief doch gut. Ich hatte einen tollen Job, viele nette Freunde und meine Familie war gesund und munter. Warum plötzlich diese Neurose? Mein Verdrängungsmechanismus funktionierte zum ersten Mal nicht mehr. Damals wurde mir klar, dass es eine Frage der inneren Einstellung ist, wie man sich fühlt. Es sollte nicht die einzige Krise in meinem Leben bleiben. Jetzt viele Jahre später, gibt es in meinem näheren Umfeld kaum jemanden, der nicht mindestens einmal eine psychische Auffälligkeit gezeigt hat, wie etwa Depressionen, Ängste, Zwangsneurosen und sogar Psychosen. Manche von ihnen fanden den Weg in die Psychiatrie - andere wiederum verzichteten auf die Schulmedizin und suchten Heilung durch alternative Methoden. Auffällig war, dass die meisten meiner Freunde ihre größte Krise nach dem Scheitern einer Beziehung durchmachten, an der Kinder beteiligt waren. Meine zwei großen Lebenskrisen habe ich hinter mir, was noch kommen wird, weiß ich nicht, aber durch sie habe ich schließlich erfahren, was wirklich wichtig ist. Fazit: Was bedeutet schon äußere Schönheit, wenn es innen „zappenduster“ ist?

Meine Mutter und Großmutter äußerten sich schon mal über die zunehmenden körperlichen Beschwerden, die das Altern zwangsläufig mit sich bringt. Meine Großmutter hatte stets ein Glas mit Blutegeln in ihrem alten Lehmhaus. Bei Bedarf legte sie eines der schwarzen Tierchen an ihre schmerzende Körperstelle.

Nach dem westlichen Modediktat orientierte Türkinnen lassen sich heute auch Fett absaugen, Falten wegspritzen oder die Nase korrigieren. Das ist klar. Aber ist es wirklich die Suche nach ewiger Schönheit oder ist es eher eine latente Angst vor dem Tod? Sicher ist, Frauen wollten schon immer schön sein, ganz egal in welchem Jahrhundert sie gelebt haben. Esther Vilar schrieb in den siebziger Jahren in ihrem Bestseller „Der dressierte Mann“, dass Frauen sich insgeheim für andere Frauen schön machten. Aus Konkurrenzgründen sozusagen. Ist da womöglich etwas dran?

Ein hübsches Mädchen lernt bereits im Kindergarten mit den bewundernden Blicken der Jungs umzugehen. „Spieglein-Spieglein an der Wand.“ Schaut man kleinen Mädchen und Buben beim Spielen zu, können einem die Buben schon Leid tun. „Du musst jetzt sagen, dass ich hübsch bin“, hört man das kleine Mädchen sagen. Der Junge steht dann wie ein Trottel da und tut, was die Göre sagt. Später, wenn die Mädchen dann erwachsen sind, schlagen sie zwei verschiedene Wege ein: die einen vergeuden sich an ein Arschloch, das sie ausnutzt und die anderen haben schnell gelernt, wie schwanzgesteuert Männer sind und setzen alles daran, mit entsprechender kosmetischer Unterstützung und psychologischer Raffinesse Männer zu manipulieren. Eine gute Partie muss es sein - eine Trophäe um bei Freundinnen und Kolleginnen angeben zu können. Schaut her, was ich mir da geangelt habe!  Bin ich nicht toll? Ja toll! Warum wird dann jede dritte Ehe geschieden? Also, Happy-End-Garantie bieten weder Schönheit noch die pfiffigsten „Luder-Qualitäten“. Nur wenige junge Frauen sind selbstbewusst genug und finden eine Balance zwischen der äußeren und inneren Schönheit. Ausstrahlung ist keine Frage des Alters. Wie sagt man: Eine Frau muss nicht klug sein. Schönheit genügt. Ich glaube, Schönheit hat noch nie genügt. Die Frauen heute wollen aber klug und schön sein. Kein Problem. In einer Zeit wo jede dritte Deutsche sich schon mal an einem Casting beteiligt hat, ist es meist nur eine Frage der Zeit und des Geldes, bis auch die letzte Skeptikerin sich unters Messer legen wird. Möglicherweise wird in Zukunft einer Frau mit Falten, grauen Haaren, Hängebrüsten, Hakennase, abstehenden Ohren oder sonstigen Makeln, vorgeworfen, sie habe sich gehen lassen. Wie immer werden die Männer dann nachziehen. Es ist ja bekannt, dass Männer wegen ihres Äußeren normalerweise nicht so kritisch sind. Aber stellen Sie sich doch mal einen Mann mit Bierbauch auf einer „Ü-30-Party“ vor, ich glaube kaum, dass er dort wahre Chancen hat eine Frau kennen zu lernen. Mein Sohn ist allerdings zeitweise genervt, wenn ich einen Satz mit „je älter ich werde...“ anfange. Er findet, so zu sprechen, sei wirklich „alt“.

Welche Vorteile hat das Älterwerden? Nun, wenn ich heute auf eine Party gehe, bin ich mir dessen bewusst, wer ich bin, ich muss mich nicht mit den anderen Frauen messen. Mit zwanzig bin ich ausgeflippt, wenn mein Lover einer anderen auf den Arsch geschaut hat, obwohl doch mein Arsch so schön war. Heute ist mir das relativ schnuppe wie jung oder hübsch eine Frau ist. Sollen die sich doch abplagen mit dem „Konkurrenz-Gehabe.“ Es ist eine wunderbare Form der Gelassenheit nicht vorne stehen zu müssen. Das heißt nicht, dass ich nicht kämpfen kann oder will - die Frage ist nur wofür. Heute habe ich das Gefühl, das Leben steht in seiner vollen Blüte vor mir, wie ein Garten mit wundervollen reifen Früchten und ich weiß nicht, wonach ich zuerst greifen soll! Mein Sohn träumt davon, in seinem Zimmer einen eigenen Kühlschrank zu haben um noch autonomer zu werden und wären da nicht die Mädchen, würde er sich wahrscheinlich auch nicht mehr waschen. Haben Sie schon einmal dreizehnjährige Jungs morgens im Bad erlebt? Irgendwie sind sie paranoid, was die körperlichen Düfte betrifft. Da werden literweise Deos und After Shaves verwendet nur um ja nicht nach Schweiß zu stinken. Wahrscheinlich ahnen sie, dass sie eine Frau nur ins Bett bekommen, wenn sie gut riechen. Und wenn sie es dann geschafft haben, das Mädel ins Bett zu kriegen, lässt das mit dem Waschen und den Deos nach. Noch ist mein Sohn nicht so weit. Gott sei Dank. Mir wird ganz bange, wenn ich an diese Zeit denke. Der arme Kerl. Muss er doch so aufpassen sich nicht mit HIV anzustecken. Ich predige ihm jetzt schon „Safer Sex“ anzuwenden. Er muss mich schon für verrückt halten, mein lieber Sohn. Wo doch seine eigentliche Liebe noch seinen Freunden gilt, dem ewigen Bund der Männer-Horde, einem geheimen Codex, den wir Frauen wohl nie verstehen werden. Noch sind die Jungs glücklich, wenn ich ihnen eine Packung Kekse und Limo mit in ihr Lager gebe, wo sie sich neuerdings tagelang aufhalten. Dort können sie ja auch Dreck machen und rülpsen und furzen, ohne dass ein Weibsbild sie kontrolliert oder erzieht. Aber im Gegensatz zum Steinzeitalter müssen die Jugendlichen sich um so ein Weib bemühen, also wird mit Deo nachgeholfen, was das Zeug hält.

Nach einem sehr hektischen Bürotag beschließe ich zur Stadtbibliothek zu fahren. Will mir einen richtig schönen alten „Schinken“ ausleihen, Tolstoi oder Dostojevski, ja etwas richtig Schweres. Man sagt, wer Tolstoi oder Dostojevski gelesen hat, habe mehr über die russische Seele erfahren, als durch eine Reise dorthin. Ich kenne allerdings nur Männer, die Dostojevski oder Tolstoi gelesen haben. Im Zeitalter der Schnelllebigkeit ist Literatur für die breite Masse nur noch über spektakuläre Seelen-Striptease-Orgien à la Dieter Bohlen oder Boris Becker präsentierbar. War das früher Konsalik? Nein, Konsalik hat viel mehr Niveau. Das Fernsehen, seine Heiligkeit, uns näher denn je, bestimmt längst unseren Tagesablauf. Klar, keiner gibt zu „Big Brother“ oder „Hilfe, ich bin ein Star, holt mich hier raus“ gesehen zu haben, aber woher kommen denn nur die Einschaltquoten? Wir, ein Volk von Fernsehsüchtigen benehmen uns wie das Hofvolk der Fürsten im Mittelalter. Damals waren die Adeligen das, was die Prominenten für uns heute sind. Wir „voten“ uns zu Tode. Überall werden Telefonnummern eingeblendet, die uns eine scheinbare Beteiligung am Geschehen vorgaukeln. „Bestimmen Sie, wer rausfliegen soll“, heißt es da. Und wir rufen brav an und treiben die Gewinne der Telefonanbieter in die Höhe. Das Sahnehäubchen an der Fernsehunterhaltung ist wie immer „Sex“. „Sex sells.“ Überall nackte Weiber, sorry, und Männer. Es ist schon sonderbar, dass eine stillende Mutter in einem Cafe von vielen Menschen als peinlich angesehen wird, während der Kollektiv-Exhibitionismus, egal welche absonderlichen Züge er annehmen mag, in der Gesellschaft seine Akzeptanz findet.

Die Bibliothek ist genauso wie vor sechs Jahren, als ich zuletzt da war. Einige Studenten und Pensionäre verlieren sich in den Hallen - ich fühle mich nicht wohl - irgendwie wirkt alles so verstaubt und farblos. Ich leihe mir nichts aus. Unten im Foyer suche ich nach interessanten Events und lasse meinen Blick über die Plakate gleiten. Ein Plakat mit einem jüdischen Sänger gewinnt meine Aufmerksamkeit. Jubiläumskonzert mit Avraham Fried lese ich, Dienstag 10.2.2004. Kurz entschlossen kaufe ich mir eine Karte für das Konzert. Toll, ein jüdisches Konzert. Vergnügt fahre ich nach Hause.

Mikail sitzt in der Küche und liest Mangas. „Hallo, mein Engel, na, wie war Dein Tag?“ „Gut“, sagt er ohne aufzublicken. „Daisy“, unser Nymphensittich-Mädchen, sitzt auf seinem Kopf und zieht eine Haarsträhne durch ihren Schnabel. „Hase“, ihr Verlobter, sitzt auf seiner rechten Schulter und knabbert mit Hingabe an seinem Ohrläppchen. Ich pfeife meinen Lieblingen zur Begrüßung eine Melodie vor. Unbeeindruckt bearbeiten sie Mikail weiter. „Hast du Hunger?“ frage ich meinen Sohn und setze Teewasser auf. „Nö, habe mir ne Pizza gemacht. Du, Mama?“ Mikail plötzlich ganz lebendig. „Ich brauche 10 Euro, wir machen morgen einen Ausflug.“

Endlich ist es Dienstag. Meine Firma ist mitten in der Innenstadt, einen Katzensprung vom Gasteig entfernt, darum beschließe ich das Auto in der Firmengarage zu lassen und zu Fuß dorthin zu gehen. Es ist herrlich, der Weg zum Gasteig führt über eine alte Brücke. Ich bleibe ein wenig stehen und schaue auf das Wasser hinunter, winzige Lichtreflexe hüpfen auf dem Wasser. Innerlich hüpfe ich mit. Ein Abend mit mir - wie schön. Dann fällt mir dieser Traum ein, ich gehe in einem Park spazieren, es ist Frühling - die Zeit, wo man am liebsten morgens ganz früh aufstehen würde um sich am morgendlichen Vogelgesang satt zu hören oder das Gras unter den nackten Füßen zu spüren - aber all diese Dinge nicht tut, weil man nicht aus den Federn kommt.

Ich gehe spazieren, in einem Park. Am Hang eines Hügels, am Flussufer, sitzt eine Frau, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, und schaut auf das Wasser. Sie hat die Haltung einer Träumerin, jedenfalls empfinde ich es so. Die Beine gespreizt, ihre Arme an den Knien locker abgestützt, sie scheint mit etwas zu spielen. Das Sonnenlicht wird in ihrem dunkelbraunen Haar reflektiert - in vielen verschiedenen Rottönen. So wie es Frauen haben, die ihr Haar mit Henna färben. Ich nähere mich ihr ganz langsam. Fühle mich von ihr auf seltsame Weise angezogen. Vorsichtig setze ich mich neben sie und empfinde dabei eine unendliche Ruhe in mir aufsteigen. Ich halte meinen Atem an. Plötzlich blickt sie mich an und legt sanft ihren Arm um meine Schulter und lächelt mich an - die Frau bin ich.

Ich quetsche mich durch eine Menschenmenge stark parfümierter gutgelaunter Konzertgäste an der Abendkasse hindurch. Wahrscheinlich sind es „Abo-Gäste“, denke ich verächtlich. Die Besucher meines jüdischen Konzerts sind ganz anders. Nicht so aufgedonnert. Die meisten Buben und Männer tragen diese typisch jüdische Kopfbedeckung. Mir fällt auf, dass die meisten Kinder ungewöhnlich ruhig und ausgeglichen wirken. Immerhin ist es nach 20 Uhr und mitten in der Woche. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass sie zum Mitgehen gezwungen wurden. Eine sehr angenehme Atmosphäre, in die ich mich gerne fallen lasse. Viele Buben im Alter meines Sohnes, stelle ich fest. Toll, diese Kombination von tief heruntergelassenen Jeans und der jüdischen Kopfbedeckung. In einer der hintersten Reihen nehme ich Platz und strahle vor Vorfreude.

Endlich, nach unzähligen Begrüßungsreden prominenter Münchner Juden, läuft Avraham Fried mit seinen Musikern auf die Bühne. Ein sehr schlanker drahtiger Mann mit Vollbart, schwarze Hose, schwarze Weste, weißes Hemd. Die Lieder haben einen fröhlich-melancholischen Touch. Die Texte sind meist einsilbig und einfach, jedenfalls scheint es mir so. Am besten gefallen mir die Balladen. In ihnen klingt der Wehklang eines jahrtausendlang gedemütigten Volkes. In der Konzertpause kaufe ich mir eine CD von Fried. Ich möchte später an diesen zauberhaften Abend erinnert werden. Zufrieden streife ich durch die Pausenhalle bis ein Gong das Pausenende verkündet und die Gäste zurück zu ihren Plätzen ruft. Nach der Pause wird das Publikum richtig warm. Viele stehen auf und tanzen. Mein Sitznachbar, ein Mann knapp älter als ich, steht plötzlich auf und tanzt, dabei bewegt er sich so heftig, dass er mit seinem Bein mehrmals mein Knie berührt. Er wirkt so ausgelassen und glücklich, dass ich den Eindruck gewinne, er habe die Welt um sich herum vergessen. Er hat diesen gewissen Gesichtsausdruck, den ich so gut von meinen Landsleuten kenne, es ist eine Mischung aus Freude, Sehnsucht und Melancholie. Ganz gleich woher jemand stammt, süß klingen die Lieder aus der Heimat in der Fremde. Ich stehe auch auf und tanze. Da ist es wieder, mein altes Problem. Dazuzugehören. Hier fühle ich mich so, als würde ich dazu gehören. Plötzlich wird mir ganz bange. Ob die Menschen mir misstrauen würden, wenn sie wüssten, dass ich Muslimin bin? Ich könnte ja eine Bombe bei mir tragen. Es könnte allerdings auch ein verrückter Nazi unter dem Publikum sein und plötzlich wild um sich schießen. Mein Nachbar lächelt mir zu und sagt etwas auf Jiddisch, ich verstehe ihn nicht. „Wie bitte?“ rufe ich, aber in diesem Moment wendet er sich seinem Begleiter zu. Den Höhepunkt bilden tanzende Rabbis unten in der Nähe der Bühne. Allesamt namhafte Herren, wie ich später erfahren sollte, mit einer Schar von Kindern. Sie bilden einen Kreis, indem sie sich an den Schultern fassen und rhythmisch zur Musik hüpfen. Warum, frage ich mich, leben all diese Menschen in dem Land der Mörder ihrer Eltern und Großeltern?

Warum war mein Vater damals nach Deutschland gekommen? Immerhin ist nicht jeder Türke gleich dem „Ruf des Westens“ gefolgt. Ahnten diese Männer und Frauen, dass der Preis des Geldes Einsamkeit und Zerrissenheit war? Oder waren sie einfach nur zu feige, für die - zugegeben - große Veränderung. Mein Vater konnte damals nicht anders, er musste einfach weg. Es war wohl eine Mischung aus Armut, Abenteuergeist und Flucht vor der Familie. „Der Himmel hat überall die gleiche Farbe“, sagte mein Vater.

Nun, wie war das bei uns, damals vor sechsunddreißig Jahren?

Zunächst migrierte mein Vater, das war 1966. Ursprünglich wollte er nur zwei Jahre in Deutschland bleiben - schnell viel Geld verdienen um dann in der Türkei das Haus fertig bauen zu können. Warum sonst hätte meine Mutter ihn alleine in die Fremde ziehen lassen? Meine Eltern hatten kurz nach meiner Geburt ein kleines Grundstück in der Nähe des Dorf-Hamams gekauft. Ein kleines Häuschen wollten sie darauf bauen - in „Keciborlu“, das so viel heißt wie „reich an Ziegen“ - hier deutet schon der Name auf eine felsige Landschaft hin - denn Steine gab es dort im Überfluss. Bis in die Nachtstunden hinein schlug mein Vater Steine aus den Felsen um es als Baumaterial für sein Haus zu verwenden, aber er brauchte auch Zement und andere Baustoffe. Es war schon frustrierend für meine Eltern, obwohl sie sehr hart schufteten - mein Vater arbeitete tagsüber im Schwefel-Bergwerk, abends als Schuhputzer und in der restlichen freien Zeit an seinem Haus, mit anzusehen, wie das Haus einfach so da stand, stumm und fast vorwurfsvoll, als wollte es sagen „so macht doch etwas!“. Meine Mutter ging Teppichknüpfen, versorgte die Kinder und half meinem Vater beim Hausbau während meine Oma stets zugegen war, wenn zusätzlich Hilfe gebraucht wurde. Da mein Vater in Keciborlu keine männlichen Verwandten hatte, musste er alles alleine machen. Irgendwann ging meinen Eltern das Geld aus. Das war sehr hart, besonders für meinen Vater. Nichts wünschte er sich mehr als dieses Haus. Er, der seit seiner frühesten Kindheit kein richtiges Zuhause gehabt hatte - aber dazu später.

August 1966: Es war an einem herrlich sonnigen Samstagvormittag. Mein Vater ging mit uns zum Bazar. Ein Ereignis, das unsere ganze Familie in höchste Glücksstimmung versetzte. Wir zogen unsere schönsten Kleider an; sogar Schuhe durften wir an diesem Tag tragen. Ich meine, echte Schuhe, nicht die Plastik-Sandalen wie sonst. Wie jeden Samstag kauften wir Obst und Gemüse für die ganze Woche ein. Es gab damals keine Konserven, geschweige denn Tiefkühlkost. Das, was die Erde bot, wurde gegessen.

Der August, ein äußerst fruchtbarer Monat, verwöhnte uns mit einer besonders großen Vielfalt aus Früchten und Gemüse. Ich spüre heute noch die kräftigen, rissigen Hände meines Vaters, der mich durch den Bazar führte. Die Frauen trugen Pumphosen aus Baumwolle und große karierte Tücher in der Größe einer Tischdecke, die sie über den Kopf warfen, wenn sie das Haus verließen - außer der jungen Mädchen, die mussten ihre Haare nicht bedecken, aber sie sollten peinlich genau darauf achten, dass ihre Kleidung anständig aussah und nichts durchscheinen ließ, wenn sie an den Straßencafes vorbeigingen. Dort saßen vorwiegend verheiratete Männer, die den jungen Mädchen hinterher blickten, mit gekonnt gespieltem Desinteresse, man konnte ja nie wissen, wessen Tochter oder Schwester es war - und man wollte ja nicht irgendjemandes Ehre verletzen. Aber ist es für die Männerwelt nicht ohnehin eine „olympische Disziplin“ Frauen auf den Busen zu schauen ohne dabei ertappt zu werden? Die Mädchen jedenfalls verstanden es, nichts zu zeigen, aber doch soviel erahnen zu lassen, dass das Interesse eines heiratswilligen Jünglings geweckt wurde. Nichts war so schlimm wie ein junges Mädchen, das keine Beachtung finden konnte. Wenn sie die Zwanzig überschritten hatte, ohne dass Freier um ihre Hand angehalten hatten, wurde es brenzlig für sie. Bereits mit dreiundzwanzig war man eine alte Jungfer - es sei denn, das Mädchen konnte ein Studium nachweisen. Nun, wie stellten sie es an - Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? So wie es alle Frauen auf der Welt tun. Es muss ja nicht immer der Busen und Po herhalten um die dummen Männerblicke auf sich zu ziehen. Ein geschmeidiger Gang zum Beispiel - nicht nuttig - in einem Rhythmus, der wie ein guter Song im richtigen Takt gespielt werden musste, nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam. Es sollte nicht künstlich wirken, aber doch eine gewisse Theatralik bieten. Stolz und weiblich sollte er sein, lockend und abweisend zugleich. Die Hüften wurden dabei so bewegt, dass man ahnen konnte, später keinen Besen im Bett neben sich liegen zu haben, aber auch keine Sexbombe, die jedem und allen ihren Nektar zu bieten schien. Anständig und sündig zugleich. Was für Zwischentöne im menschlichen Balzverhalten!  Und der Blickkontakt? Niemals durfte ein junges Mädchen einem Mann zu lange in die Augen schauen. Die Augen - Pforten der Seele, sie würden alles verraten. Eine Frau sollte den Mann verzücken, verzaubern und vor allen Dingen neugierig machen - auf das was sie von anderen Frauen unterschied - ihre Persönlichkeit. Und diese durfte auf keinen Fall auf einmal offen dargelegt werden wie auf einem silbernen Tablett. Stück für Stück sollte er ihre Vorzüge kennen lernen. "Sei wie eine Königin und du wirst wie eine Königin behandelt", sagen die Spanier. Ein Mann durfte sich nie zu sicher sein. Schließlich konnte jederzeit ein anderer Freier um die Gunst der Auserwählten werben. Also musste er schnell handeln. Sie pflücken, bevor es andere taten. Außerdem gab es noch einen ganz banalen Grund für diese Eile. Der menschliche Trieb. Eine Frau musste jungfräulich in die Ehe gehen - damit sie später keinen Vergleich haben konnte. Das war immerhin eine gewisse Garantie für Treue. Und was die jungen Männer betraf, so sollten sie möglichst schnell heiraten und Kinder zeugen, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen konnten - außerdem hatten sie so regelmäßigen Sex. Na bitteschön!

Der eigentliche Heiratsmarkt war der Hamam, das türkische Bad. Bitte nicht verwechseln mit dem Harem - da ich so viel von weiblichen Reizen gesprochen habe. Dort konnte man sehen, wie der Körper eines Mädchens war. Ihre Brüste, ihre Hüften, die Beschaffenheit der Haut zeigen einer erfahrenen Frau, wie es um die Gesundheit eines Mädchens steht. Stellte es sich heraus, dass es unter Ausschlägen litt, unterstellte man ihr, später kranke Kinder zu gebären. Ihr Körper sollte kräftig, ihre Haltung stolz sein. Später musste sie einmal zupacken können um nicht bei jedem „Unwetter des Lebens“ zusammenzubrechen. Wenn sie obendrein von Anmut, Grazie und geistiger Schönheit gesegnet war - durfte es nicht an Verehrern mangeln.

„Hamam“, eines der schönsten Wörter, die ich kenne, vielleicht auch deshalb, weil sich meine allerschönste Kindheitserinnerung dahinter verbirgt. Unser Hamam war etwa hundert Meter von unserem Haus entfernt. Es war ein uraltes Gebäude mit dicken schweren Mauern und einer runden Kuppel. Es stand nicht nur da, es schien mit dem Boden verwurzelt zu sein. Einmal wöchentlich, meist freitags ging meine Mutter mit uns Kindern zum Hamam. „Zum Reinigen des Körpers und der Seele“, sagte sie. Sie nahm Obst und belegte Brote mit, Cay gab es dort umsonst. Man trat zunächst in ein weites hohes Gewölbe ein, in dessen Mitte ein wunderschöner alter Springbrunnen mit Figuren aus einem Märchen von Tausend und einer Nacht plätscherte. Ringsherum befanden sich kleine Kabinen, worin man nach dem Bad ungestört und in duftige Handtücher gewickelt ruhen konnte. An der Kasse saß eine uralte, immer freundlich lächelnde Badewärterin mit dem blumigen Namen Lale, die den Badegästen Hamam-Tücher und Pantilen auslieh. Bevor man die Haut reinigen konnte, mussten sich erst einmal die Poren öffnen. Dazu ging man in einen der fensterlosen Schwitzräume, wo es sehr heiß und dampfig war, sodass man seinen Gesprächspartner kaum sehen konnte. Vielleicht war das der Grund, warum nirgendwo sonst so intensiv getratscht wurde wie im Hamam. Für Badegäste, die sich für intimere Badeprozeduren, wie etwa das Entledigen von lästigen Körperhaaren zurückziehen wollten, gab es separate Kabinen. Musliminnen sollen am Körper unbehaart bleiben und das bis ins hohe Alter. Körperbehaarung war den Männern vorbehalten - es galt als höchst unweiblich, wenn zum Beispiel die Achseln behaart waren. Der Körper einer Frau sollte glatt und weich sein. Frauen verbrachten Stunden damit, ihren Körper diesbezüglich in Form zu halten. Vom „Schwitzraum“ gelangte man in eine riesige gewölbte Halle, deren marmorner Fußboden so stark beheizt war, dass man ihn nur auf hölzernen Pantinen betreten konnte. Unter der Mitte der Kuppel, deren sternförmige, durch dickes Glas geschlossene Öffnungen, das Tageslicht eindringen ließen, erhob sich ein fünf Schuh hohes Plateau von Marmor und Jaspis reich verzierter „Bauchstein“, auf welches man sich behaglich ausstrecken konnte. Ringsherum befanden sich Zellen mit marmornem Waschbecken für die einzelnen Badegäste. Hier sprudelte reichlich klares Wasser, ganz nach Belieben aus zwei verzierten Hähnen, warmes und kaltes. Wir Kinder wurden derselben Prozedur unterworfen wie die türkischen Pferde beim Striegeln. Dabei zog sich meine Mutter einen Waschhandschuh aus Ziegenhaar über und rubbelte uns den Dreck vom Körper. Heute würde man sagen ein „Ganzkörper-Peeling“. Die alte Haut wurde dabei heruntergerubbelt wie ein mit Bleistift beschriebenes Blatt von einem Radiergummi. Natürlich schrieen wir Kinder dabei. Aber das beeindruckte meine Mutter nicht sonderlich. Sie war ganz in ihrem Element, beinahe exstatisch, hatte dem Dreck den Krieg erklärt und so schrubbte sie, bis wir wie kleine rote Krebse aussahen. Dabei sah meine Mutter aus wie eine Löwenmutter, die ihre Jungen putzte und die Kleinen, die Reißaus nehmen wollten, kurzerhand mit der Pranke zurückholte. Anschließend eilte sie mit einer großen Schüssel wohlriechendem Seifenschaum herbei um uns nun endgültig den Dreck weg zu waschen, „damit die Haut endlich wieder atmen könne“. Wer fertig war, durfte auf das „Bauchbecken“ um sich dort von der Wasch-Prozedur zu erholen. Ich legte mich auf den Rücken und blickte hinauf zur Kuppel um mir von den Sonnenstrahlen die Nase kitzeln zu lassen. Jetzt erst hatte meine Mutter Zeit sich der eigenen Körperpflege zu widmen. Sie bestrich zuerst ihr Haar mit Henna, damit es später glänzend und kräftig in der Sonne blitzen konnte, wenn mein Vater, der einzige Mann, der ihre Haare sehen durfte, sich daran erfreuen konnte. Das Haar einer Frau ist die halbe Schönheit, sagte meine Mutter und pflegte zeitlebens ihr Haar besonders liebevoll. Dann ging sie zur Badewärterin, einer dicken großen Mulattin, um sich der gleichen Prozedur hinzugeben, wie zuvor ihre eigenen Kinder. Wir hielten uns den ganzen Tag im Hamam auf. Wir aßen Obst und Zigara-börek, das ist Teig gefüllt mit Schafskäse in Form von Zigarren, mundgerecht und klein - dazu tranken wir süßen schwarzen Tee. Wir Kinder kicherten verstohlen über die nackten Brüste besonders dicker Frauen. Irgendwann schob meine Mutter uns in eine der Kabinen im Eingangsbereich und legte uns auf eigens dafür bereitstehende Betten, umwickelte liebevoll unsere kleinen Körper mit Handtüchern und befahl uns zu schlafen. “Ruhe jetzt“, sagte sie gespielt streng und gab mir einen Klaps auf den Po, wenn ich so tat, als würde ich schlafen und kichernd mit den Wimpern zwinkerte. Die Badeprozedur, das leckere Essen, das Plätschern des Springbrunnens und der Gesang der Vögel, der aus den anliegenden Gärten eindrang, wogen uns Kinder schnell in einen süßen Schlaf.

„Anne, lass uns zum tanzenden Bären gehen!“ bettelte ich. „Na dann“, sagte meine Mutter. Also gingen wir auf die Menschentraube zu, die einen Kreis um den tanzenden Bären gebildet hatte, einem verfilzten Grizzly, der mit einer dicken Kette um den Hals aus Angst vor den Schlägen seines Herren blöd hin- und hertapste. Heute weiß ich, dass so etwas Tierquälerei ist, aber damals als Kind war es eine große Attraktion für mich. Ein Bekannter meines Vaters, der nach Deutschland zum Arbeiten gegangen war, kam lächelnd auf uns zu. Die Männer begrüßten sich herzlich und der Fremde bot meinem Vater eine Filterzigarette aus Deutschland an. Er holte ein goldenes Feuerzeug aus seiner deutschen Jacke und zündete die Zigarette an. Dabei sagte er betont lässig mit hochgezogenen Augenbrauen: „Du musst auch dorthin.“ Meine Mutter konnte sich nicht beherrschen, „und was ist mit uns, soll ich mit drei kleinen Kindern hier alleine bleiben?“ zischte sie ihn an. Er antwortete nicht. Männer unterhielten sich nicht mit Frauen, wenn ihr Ehemann zugegen war. Meine Mutter war verwirrt - sie kannte ihren Mann - er liebte Veränderungen. Dann sammelte sie sich schnell wieder. Sie hatte sich in Männergespräche eingemischt und dem fremden Mann zu lange in die Augen gesehen. Was sollte er von ihr denken? Kommt daher nicht der Ausdruck, man habe einem Mann „schöne Augen gemacht?" Natürlich machen wir Frauen bestimmten Männern schöne Augen. Logisch! Aber sind es nicht ausgerechnet die Männer, die lauthals behaupten, diese und jene Frau würde mit ihnen ins Bett steigen, weil sie ihm „schöne Augen“ gemacht habe, von denen wir Frauen keine Notiz nehmen?

Der Bazar roch nach Zuckerwatte, Gewürzen und Eau de Cologne. „Kolonya“, sagen die Türken dazu und reiben sich besonders an heißen Sommertagen kräftig damit ein. Ich liebe Gerüche - nicht nur gute - auch Tabakgeruch oder den Schweiß eines geliebten Menschen. Mein Vater roch immer nach Tabak und etwas Schweiß - schließlich schien er sich nie auszuruhen. „Komm uns besuchen! Wann immer du willst!“ sagte mein Vater zu dem Fremden und nahm mich wieder an der Hand. Wenn man knapp hundert Zentimeter groß ist, sieht man natürlicherweise die Welt aus einer anderen Perspektive. Besonders in einer Menschenmenge, wenn es eng wird. Das Rascheln von Stoffen, die Stimmen der Händler, um die Wette schreiend bis sich die Stimmen überschlugen. Die Waren erhielten blumige Adjektive. Alles war süß, himmlisch, frisch und deliziös. Dicke, leuchtendrote Tomaten, pralle glänzende Auberginen, süße Trauben, saftige Melonen, knackige grüne Bohnen, Zucchini und Paprika. Hinzu kamen Eselsschreie, das Kreischen von Hühnern, die vor den Augen des Käufers geköpft wurden und der ferne Ruf des Muezzins - alles vermischte sich zu einem „Geräusche-Salat“ bis mein Vater mich hochnahm und auf seine kräftigen Schultern setzte. Das war lustig, so konnte ich alles viel besser sehen. Bunte Luftballons und Bonbons, Plastik-Kitsch, hin- und wieder ein exotischer Vogel verängstigt in einem Käfig sitzend und dazu Gerüche von exotischen Gewürzen, die einem beim Vorbeigehen ganz schwindelig machten. Meine Mutter feilschte mit einer Bäuerin beim Kauf von Tomaten. Ihr Korb füllte sich mit Gurken, Trauben, Granatäpfeln, Zuckerrüben, Oliven, Schafskäse, grünen Bohnen und frischen Eiern. Eier gab es bei uns sehr selten, da wir keine eigenen Hühner hatten. Das Gemüse wurde nicht nur frisch verzehrt, man sorgte auch für den Winter vor: selbst gemachtes Tomatenmark, Marmelade, eingelegte Gurken und Paprika und Zwiebeln. Man trocknete Bohnen, Paprika, Auberginen und Barbunya indem man alles wie eine Kette auf Fäden zog und an die Küchen-Wände hängte, so wie Girlanden. Im August gab es auch „Bulgur-Feste“, dabei wurde frisch geerntete Gerste bis in die Nachtstunden in riesigen Töpfen aufgekocht, gesalzen und an die Dorfbewohner verteilt - es schmeckte vorzüglich. Bulgur wurde auf sonnigen Dachterrassen auf Tüchern ausgelegt und getrocknet. So eine Art „Cous-Cous“ - nur mit größeren Körnern. Ein Armen-Essen sozusagen. Heute muss ich schon grinsen, wenn diese Dinge hier als Delikatesse verkauft werden. Apropos Delikatesse: Meine Mutter hatte in unseren Anfangsjahren hier in Deutschland vergeblich nach Auberginen und Zucchini gesucht, das war 1968. Wer kannte damals schon Auberginen? Schließlich fand sie bei „Käfer“, einem Delikatessen-Geschäft in München, das so leidenschaftlich begehrte Gemüse - für einen Preis, der meinem Vater das Blut in die Schläfen trieb. Aber er verstand sie, alles aus der Heimat war willkommen, egal zu welchem Preis. Sehnsucht nach Heimat kann auch über den Gaumen gestillt werden.

Ali Abi, der Eisverkäufer machte an diesem Tag besonders schöne Kunststücke mit seinem Eisspachtel - „extra für dich, dem schönsten Mädchen weit und breit!“ rief er charmant. Eines Tages sollte ich seinen Sohn heiraten. „Gibst du sie mir zur Schwiegertochter?“, fragte er meinen Vater und machte dabei einen theatralisch verzweifelt bettelnden Gesichtsausdruck. „Nasip“, antwortete mein Vater. Das bedeutete soviel wie „so Gott will“. Damit wurde die Entscheidung an Gott übergeben. Sehr schön! Ali Abi zog das Eis wie Kaugummi in die Länge um es dann kunstvoll wieder auf die Eiswaffel zu befördern. Ich klatschte begeistert in die Hände. Den Sohn des Eisverkäufers habe ich nicht geheiratet - obwohl ich damals dreijährig keine bessere Wahl hätte treffen können, ein Leben lang Eis, kann man sich ein schöneres Leben vorstellen? „Probiert mein Eis - liebe Leute und ihr werdet das Paradies schmecken!“ rief Ali Abi und wandte sich wieder an die Menge. Mein Vater blickte meine Mutter fragend an. Konnten sie sich Eis für die ganze Familie leisten? Eigentlich nicht. Ali Abi wäre ein schlechter Händler gewesen, wenn er nicht Menschenkenntnis besäße. Augenzwinkernd bot er seinen zukünftigen Verwandten einen besonders günstigen Familienpreis an. „Na, willst du?“ fragte Ali Abi lächelnd. Mein Vater wollte und übersah den vorwurfsvollen Blick meiner Mutter.

Dieser Tag sollte sich schicksalhaft auf unser Familienleben auswirken. Auf dem Nachhauseweg sahen wir eine Gruppe junger Männer vor einem Plakat im Schaufenster des Friseurs stehen. Aus dem Stimmengewirr hob sich das Wort „Almanya“ deutlich heraus. Was heißt „Almanya?" fragte ich meinen Vater. „Deutschland“, sagte er geistesabwesend - er hatte Feuer gefangen - „ein Land, ganz weit weg von hier“. „Gibt es dort auch Eis?“ „Aber ja meine Kleine - ganz viel Eis und viel Schokolade, vielleicht geht der Papa dort mal hin.“ Ich war zufrieden. Ein Ort, wo es Eis und Schokolade gab, musste toll sein.

Zwei Jahre lang lebte mein Vater von uns getrennt in München. Ich vermisste ihn sehr. Für Kinder spielt es keine Rolle, warum sich die Eltern trennen, ganz egal ob sie sich wegen einer Scheidung oder wie in unserem Fall, wegen eines besseren Jobs trennten, ich hatte meinen Vater verloren. Dass er bald wieder da wäre, tröstete mich nicht. Die bunten Spielsachen, die er uns schickte, konnten es ebenso wenig tun, ich wollte meinen Buba wieder. „Kinder vergessen schnell. Mach dir keine Sorgen“, sagte meine Oma und strich meiner Mutter über das Haar. „...vergessen schnell“, wiederholte sie leise.

Aber wie fühlte sich mein Vater in „Almanya“, in dem Land wo es Eis und Schokolade gab? Was ging in seinem Kopf vor, als er sich in das neue, so ganz und gar fremde Leben stürzte? Alles war so groß, so laut und anders. Überall steckten Schilder mit Verboten die er nicht verstand. Alles hatte seinen Platz. Und die Menschen, warum waren sie so ernsthaft? Das heißt, wenn sie Alkohol tranken, lachten sie viel, aber es war ein künstliches Lachen. Und warum teilte man hier sein Essen nicht? Viele Fragen, die meinem Vater bis heute unbeantwortet geblieben sind. Das mit dem Geldsparen funktionierte nicht ganz so, wie er es sich zu Hause ausgemalt hatte. „Die Rechnung, die du zu Hause machst, stimmt nicht mit der Rechnung im Bazar überein“, sagt ein altes türkisches Sprichwort. Wie wahr! Neben dem Geld, das er nach Hause schickte, brauchte er ja auch für sich etwas zum Leben. Er war jung, erst 25 Jahre alt, Frau und Kinder waren weit weg. Und es gab niemanden, der ihm in sein Leben hinein redete - eine Gewohnheit, die in der Türkei gang und gebe ist. Die Verwandten nehmen sich das Recht, selbst älteren Familienangehörigen tüchtig ins Horn zu blasen, sofern sie sich vom rechten Weg entfernten. Man war sozusagen nie erwachsen, nie ganz frei. „Cok ayip“, sagt man. Was so viel heißt wie „so etwas tut man nicht - schäm dich!“ Selbst bei mir lösen diese beiden Worte heute noch etwas Unwohlsein aus. Aber wie alles im Leben hat auch diese Eigenart eine positive Seite. Ein junger Ehemann zum Beispiel, der sich in den Anfängen von Spielsucht, Ehebruch oder Trinksucht befindet, wird von den anderen Männern und älteren Frauen (eine türkische Frau bekommt Mitspracherecht, wenn sie älter wird, dazu später mehr...) getadelt. Viele „Sünder“ können so ins anständige Familienleben zurückgeholt werden. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass es sich bei meinen Ausführungen ausschließlich um Beobachtungen des Zusammenlebens in der ländlichen türkischen Bevölkerung handelt. Selbstverständlich ist das Leben in den Großstädten freier und unkonventioneller als auf dem Land. Gewiss, nie ganz so frei wie in den westlichen Großstädten, aber für Menschen mit Neigung zur Individualität zweifelsfrei die bessere Wahl.

Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, mein Vater, 25-jährig, fern von den kontrollierenden Augen der türkischen Gesellschaft - lebte plötzlich in völliger Freiheit. Dazu kamen - all die jungen hübschen Frauen mit ihren Mini-Röcken und der freizügigen Lebensweise. Es war die Zeit der Beatles, Hippies, der sexuellen Revolution. Was mag er wohl damals wirklich gefühlt und gedacht haben? Was ist dir an den Deutschen zuerst aufgefallen, fragte ich ihn einmal? Er antwortete ohne nachzudenken, so als hätte er auf diese Frage schon lange gewartet, „die mangelnde Gastfreundschaft, die Gleichgültigkeit den Mitmenschen gegenüber und die vielen Verbotsschilder“. Er hatte damals auch eine deutsche Freundin, blond, süß und gebildet, eine Studentin. Sie schlief mit ihm, ohne von ihm zu erwarten, dass er sie heiratete. Ein Männer-Paradies. Mein Vater leugnete seine Beziehung zu ihr nicht. Er zeigte uns sogar Fotos seiner deutschen „Bekannten“, als er uns besuchen kam. Ich glaube, das hat meine Mutter sehr verletzt. Viele seiner Freunde waren neidisch auf ihn. „Es ist nicht so, wie ihr euch das denkt“, erklärte er, „das Ganze hat auch eine andere Seite. Einsamkeit und Ausgrenzung - das ist der Preis für den besseren Lebensstandard.“ Aber das wollte ihm niemand so richtig glauben.

Mein Vater beschloss uns zu sich zu holen und reichte die erforderlichen Anträge auf Familien-Nachzug ein. Damals war das kein Problem. Jeder Gastarbeiter war willkommen. Anfangs arbeitete er im Krankenhaus Harlaching, ich weiß nicht genau, welcher Tätigkeit er da nachging, vermutlich war er Krankenpfleger-Helfer. Schließlich hatte er ja keine Ausbildung, geschweige denn gute Deutschkenntnisse. Aber er trug einen weißen Kittel. Daran erinnere ich mich heute noch - mein „Buba“ in einem weißen Kittel vor einem modernen hohen Haus. Stolz erzählte ich allen Kindern, dass mein Vater nach Deutschland gegangen war um Arzt zu werden. Außerdem behauptete ich, fünfjährig, ich könne bereits deutsch sprechen und gab ihnen eine Kostprobe. Sie waren sehr beeindruckt, zumal ich mein Publikum mit echt deutschen Bonbons bestochen hatte, die mein Vater bei seinem letzten Besuch da gelassen hatte.

Eine der wenigen Erinnerungen, die ich mit der Türkei verbinde, ist der Tag, an dem mein Vater zurück kam um uns zu holen. Als er ging, war ich drei Jahre alt gewesen und wie die meisten kleinen Mädchen hatte ich meinen Vater sehr geliebt. Ein kleines Kind kann nicht wirklich begreifen, was es bedeutet, dass der Papa bald wieder kommt. Es hat kein Zeitgefühl, schon gar nicht, wenn es heißt „der Papa kommt in drei, sechs oder zwölf Monaten wieder.“ Er war weg. Für mich damals war es „für immer“.

Am Tag seiner Ankunft flüsterte meine Mutter mir die Neuigkeit ins Ohr während sie morgens meine Haare kämmte, „heute Abend, wenn es dunkel ist, kommt dein Buba uns besuchen.“ Ich war überglücklich, immer wieder schaute ich in den Himmel und hoffte, dass es bald dunkel würde. Als es endlich dämmerte, lief ich zum Bahnhof. Der Zug war soeben eingefahren. In etwa zehn Metern Entfernung sah ich einen fremden Mann, der zu mir herüber sah. Er trug einen schönen Anzug mit einer schmalen dunklen Krawatte, wie es damals Mode war und in jeder Hand einen Koffer. Der Mann stellte seine Koffer ab und ging in die Knie: „Hülya, mein Schäfchen, bist du es?“ Ich stand wie versteinert da, plötzlich fürchtete ich mich vor diesem großen fremden Mann. Er nahm mich hoch und drückte mich an sich, dass es fast wehtat. Er roch so gut und so fremd. Ist es nicht so, dass man, ganz gleich wie alt man ist, den Geruch seiner Eltern nie vergisst. Ich weiß heute noch, wie seine unrasierte Wange piekte. Ein Dreitagesbart, solange dauerte die Reise mit dem „Orient-Express“. Immer wieder küsste er mich und weinte. „Mein Engel, sagte er, komm lass uns nach Hause gehen.“ Von weitem sah ich meine Mutter, meinen Bruder Memduh und meine große Schwester Hanife. Sie liefen uns entgegen. Zwischen meinen Eltern herrschte zu Anfang eine seltsame Atmosphäre. Immerhin hatten sie sich ein Jahr nicht gesehen. Es war 1968, damals gab es in Privathaushalten keine Telefone. Man schrieb sich lediglich Briefe.

1953 wurde mein Vater während seines Militärdienstes nach Keciborlu versetzt, meinem Geburtsort, einem kleinen Städtchen in der Nähe von Antalya. Als seine Pflichtjahre vorbei waren, entschied er sich dort zu bleiben und eine Familie zu gründen. Zurück in sein Dorf nach Anatolien wollte er nicht mehr. Keiner wusste genau warum, er sprach nie über seine Vergangenheit. Irgendwann auf dem Weg zum Dienst, er arbeitete bei der Gendarmerie - sein Spitzname ist bis heute „Jandarma Kemal“ - sah er meine Mutter und verliebte sich in sie. Sie war siebzehn, etwas mollig mit pechschwarzen langen Haaren, schrägen Augen wie die einer Japanerin und sehr heller Haut. Die schrägen Augen hatte sie von meinem Großvater, er war tatarischer Abstammung. Wie es damals Brauch war, hielt mein Vater bei meinem Großvater Mehmet um die Hand seiner jüngsten Tochter an. Normalerweise kommt die Familie des Bräutigams um dies zu tun, aber da mein Vater ganz ohne Verwandtschaft in Keciborlu lebte, tat er es selbst. Mein Opa war anfangs gegen eine Heirat. Dieser junge Mann machte auf ihn einen ziellosen und unsteten Eindruck, das gefiel ihm nicht. Wie war überhaupt seine Familie - ein ehrenwerter Vater gab sein Kind nicht einfach so einem Fremden, dessen Vorleben er nicht kannte. Außerdem war meine Mutter sein jüngstes Kind, sein kleiner Liebling. Und warum wollte der Bursche nach seinem Militärsdienst nicht wieder in seine Heimat zurück? Eines Tages würde er seine Tochter mitnehmen - in die Fremde. Hier ist nicht von Deutschland die Rede, sondern von Anatolien, das war zwar nicht ganz so weit weg wie Deutschland, aber trotzdem ein ganzes Stück von Keciborlu entfernt. Mein Großvater wollte seine Enkelkinder bei sich aufwachsen sehen. Ein verständlicher Gedanke aus der Sicht eines alten Mannes. Meine Großmutter, eine sehr herrische und selbstbewusste Frau war da ganz anderer Meinung. Sie hatte genug Enkelkinder - immerhin waren ihre vier größeren Kinder verheiratet. Meine Mutter war das „Nesthäkchen“. So sehr es meine Großmutter schmerzte ihr letztes Kind herzugeben - glaubte sie fest daran, dass dieser junge Mann der richtige für ihre kleine Tochter war.

Meine Großmutter, Fatima, hatte früh geheiratet: Ihre erste Ehe war ein Reinfall. Ihr Mann trank und spielte - außerdem ließ er sich oft wochenlang nicht blicken. Er entschuldigte sich zwar jedes Mal und fiel vor ihr auf die Knie, aber das beeindruckte sie nicht. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die an das Gute im Manne glaubten. Obwohl sie mittlerweile ein kleines Kind bekommen hatte, ließ sie sich von ihm scheiden und ging mit ihrer Tochter zurück zu ihren Eltern. „Ich will kein Opfer sein“, sagte sie stolz. Als eines Tages ein sehr wohlhabendes, kinderloses Ehepaar aus Ankara in Keciborlu den Bürgermeister besuchen kam, erfuhren sie von dem kleinen Mädchen, das vaterlos aufwuchs und meldeten Interesse an einer Adoption an. Wenige Tage später verließ das fremde Ehepaar mit der zweijährigen Tochter meiner Großmutter das kleine Städtchen. Regelmäßig schickten sie Briefe an meine Oma und dokumentierten mit Hilfe von Fotos, wie gut es ihrer Tochter dort ging. Diese Briefe brachen meiner Oma das Herz. Die Adoptiv-Eltern boten ihr auch wiederholt Geld an. „Ich habe mein Kind nicht verkauft, ich will nur, dass sie eine bessere Zukunft bekommt“, rief sie entsetzt. Als ich sie einmal darauf ansprach, wurde sie sehr traurig. Nie hatte ich bei ihr diesen Ausdruck gesehen, ich glaube, sie schämte sich zutiefst. „Ich hätte sie nie weggeben dürfen, das war der größte Fehler meines Lebens. Wir hätten es nicht leicht gehabt, aber hungern mussten wir ja schließlich noch nie. Nun, ich war jung und naiv. Ich dachte, ein Kind kann nur dann glücklich sein, wenn es Vater und Mutter zugleich hätte. Aber wie viele Ehen sind denn wirklich glücklich und ist es nicht manchmal besser für ein Kind, mit der Mutter alleine aufzuwachsen als einen prügelnden Vater um sich zu haben?“, sagte sie und ihre Augen funkelten vor Erregung. „Außerdem“, fügte sie hinzu, „die Liebe zu einem Mann, was ist das schon - Schall und Rauch - aber die Liebe zum eigenen Kind ist unvergänglich.“ Zehn Jahre später habe ich abgetrieben, ich glaubte, ein Kind solle unbedingt Eltern haben. Ich wollte nicht allein erziehend sein. Später habe ich geheiratet und ein Wunschkind bekommen, meinen Mikail - und was ist geschehen - ich wurde trotzdem eine allein erziehende Mutter. Ich habe mein erstes Kind geopfert für eine romantische Idee von einer perfekten Familie. Dies war MEIN größter Fehler.

Der zweite Ehemann meiner Großmutter, ein Kurde - zwei Kinder kamen aus dieser Verbindung hervor - starb früh. Mein Opa war ihr dritter und liebevollster Ehemann. Er behandelte seine Stiefkinder wie seine eigenen. Als er meine Großmutter eines Tages nach Ankara mitnahm, wo sie ihre Tochter, mittlerweile vierzehnjährig, besuchen durfte, hatte er ihr Herz für alle Zeiten erobert. Meine Mutter durfte in den Sommerferien ihre große reiche Schwester in Ankara besuchen, was natürlich für einen Teenager ganz großartig war. Mein Großvater war seiner Zeit weit voraus. Aus heutiger Sicht war er ein Softie und Pazifist. Er war gegen jede Form von Gewalt. Er schlug zur Verwunderung anderer Männer nicht einmal seinen Esel. Er liebte es zu kochen und half seiner Frau beim Wäschewaschen. Zu dieser Zeit gab es keine Waschmaschinen und Wäsche mit der Hand zu waschen war sehr kraftaufreibend. „Männer sind doch stark“, sagte er augenzwinkernd. Er nahm den Spott anderer Männer nicht ernst. Mehmet Hayat war im Balkankrieg gewesen, er hatte genug Unheil auf der Welt gesehen. Was kümmerte ihn das Gerede anderer Leute. Seine Familie war ihm wichtig. Solange sie ein Dach über dem Kopf hatten und genügend zu essen, war er glücklich. Apropos Essen: Großvater hatte die Angewohnheit, nie mehr als sieben Löffel von einer Mahlzeit zu essen. „Das genügt“ sagte er und sah lieber seiner kleinen Tochter beim Essen zu, die einen gesegneten Appetit hatte. Großmutter war seine zweite Frau - nach dem Tod seines einzigen Sohnes ging seine Ehe in die Brüche. Seine Frau wurde durch den Verlust ihres Sohnes beinahe verrückt, so ging sie zurück zu ihren Eltern. Als er viele Jahre später meine Großmutter kennen lernte, war sie eine „gestandene Frau“ von fünfunddreißig Jahren, allein erziehend und dem Leben trotzend. Besonders den Sohn meiner Großmutter, Hasan, liebte er sehr. Er erinnerte ihn an seinen verstorbenen Sohn Memduh, der an den Folgen einer Kinderkrankheit gestorben war. Mein Großvater liebte die herbe, wortkarge Art seiner neuen Frau. Sie war ihm eher wie ein Freund, denn wie eine Geliebte. Ihre Kinder waren seine Kinder. Peinlich genau achtete er darauf, dass im Beisein der Großen seine eigenen Kinder nicht bevorzugt wurden. Als die großen Kinder aus dem Haus waren, genoss er es jedoch sehr, meine Mutter, sein kleines Mädchen, zu verwöhnen. Nicht mit materiellen Dingen, dazu waren sie zu arm. Großvater gab ihr das, was man nicht kaufen kann. Liebe und Zeit. Er setzte sie auf seinen Esel und ritt mit ihr davon. Sie lernte die Natur kennen: Betörend duftende Rosenfelder, Olivenhaine, Traubenhänge, seinen Lieblingsplatz am Fuße eines Baches und den Blick auf das Tal, wo er als Kind seinem Vater bei der Heuernte geholfen hatte. Er lehrte sie den Gesang verschiedener Vogelarten zu unterscheiden und nahm ihr die Angst vor Schlangen, Spinnen und Skorpionen und brachte ihr die wichtigsten Koranverse bei. „Wenn ich dich anschaue, mein kleiner Liebling“, sagte er „weiß ich warum ich lebe. Du bist das Schönste was ich je gesehen habe.“ Ich habe meinen Großvater nie gesehen, aber all die Geschichten, die über ihn erzählt werden, haben mir immer das Gefühl gegeben jederzeit zurückblicken zu können. Zu ihm. Mit ihm sprechen zu können, wenn es mir schlecht ging - Halt zu finden in den Wurzeln meiner Herkunft.

„Was willst du?“ rief meine Großmutter forsch, nachdem mein Vater gegangen war. „Er hat keine Verwandtschaft hier, das ist für unsere Tochter doch ideal - keine Schwiegermutter, keine Schwägerinnen, die ihr das Leben schwer machen können. Sei nicht so misstrauisch, er will nicht zurück in sein Heimatdorf. Er liebt unsere Tochter.“ Das überzeugte ihn. Er wollte auf keinen Fall, dass seine Tochter in der neuen Familie leiden musste. Es gab genügend Schwiegermütter, die ihre Schwiegertöchter schlugen und demütigten. Traditionsgemäß lebten junge Ehepaare bei den Eltern des Bräutigams. Schließlich gab er nach. Er fragte meine Mutter, ob ihr der junge Mann gefalle, sie gab das zur Antwort, was man von einem anständigen jungen Mädchen erwartete. „Baba, dein Wunsch ist mir Befehl.“ „Nein mein Kind, ich möchte dich nicht an einen fremden Mann geben, den du nicht liebst“, sagte er besorgt. „Liebst du ihn?“ fragte er noch einmal. Meine Mutter nickte.

So heirateten meine Eltern 1957 in Keciborlu. Nach neun Monaten kam meine Schwester Hanife zur Welt. Ein quirliges kleines Mädchen, das meine Mutter mehrmals am Tag umziehen musste, weil sie sich immer wieder schmutzig machte. Vierzehn Monate später wurde mein Bruder Memduh geboren, der Stammhalter. Ein bildhübscher Junge. Er hatte ebenso grüne Augen wie mein Vater. Nach weiteren zwei Jahren kam ich zur Welt.



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